Osteuropa-Experte zu Abhöraffäre "Geschwächter Scholz kann für Russland zum Problem werden"
05.03.2024, 20:46 Uhr Artikel anhören
Die Abhöraffäre "macht Scholz nicht beliebter bei der Bevölkerung", sagt Experte Friedman.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mit der Veröffentlichung des abgehörten Gesprächs der Bundeswehr-Offiziere legen die Russen ihre Abhörfähigkeiten offen. Die Botschaft hinter der Aktion sei dem Kreml aber wichtiger als die Möglichkeit, weiter heimlich mitzulauschen, sagt Russland-Experte Alexander Friedman. Gleichzeitig könnte der Skandal für Russland nach hinten losgehen. Wieso der Kreml trotzdem dieses "riskante Spiel" spielt und warum ausgerechnet Deutschland so oft im Visier der russischen Propagandisten steht, darüber spricht der Historiker im ntv.de-Interview.
ntv.de: Die deutschen Offiziere sagen in dem abgehörten Gespräch eigentlich nichts Überraschendes. Es ist kein Geheimnis, dass Deutschland als ein Verbündeter der Ukraine die Krimbrücke zerstört sehen will. Warum veröffentlicht Russland dieses Gespräch trotzdem?
Alexander Friedman: Das war ein Gespräch von Spezialisten, die eine Situation besprechen, so, wie Militärs in verschiedenen Ländern es tun - sie tauschen sich einfach aus. Aber da die meisten Menschen in Russland dieses Gespräch nicht gehört haben, kann es die Propaganda falsch interpretieren und suggerieren, dass die deutschen Offiziere einen Angriff auf die Krimbrücke geplant hätten, was ja natürlich nicht stimmt. Da hat man sofort ein Bild des Zweiten Weltkrieges vor Augen, es wird behauptet, die Deutschen wollen jetzt da weitermachen, wo ihre Vorfahren im Zweiten Weltkrieg angefangen haben. Das ist ein Feindbild, das beim russischen Publikum sehr gut ankommt. Es wird behauptet: Wir kämpfen gegen die ganze westliche Welt, sie wollen uns zerstören, und wir müssen uns verteidigen. Dass ausgerechnet die Deutschen als Speerspitze dargestellt werden, kann dieses Feindbild zusätzlich untermauern, weil man genau an die Vorstellungen anknüpft, die man in Russland historisch bedingt ohnehin hat.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Welche Ziele will der Kreml mit der Veröffentlichung in Deutschland erreichen?
Die Aufnahme erschien am Tag der Beisetzung von Nawalny, was in Deutschland ein großes Thema war. Deshalb ist es naheliegend, dass man die Öffentlichkeit hierzulande ablenken wollte. Zahlreiche Influencer, die im Auftrag von Russland für das deutsche Publikum schreiben - wie Alina Lipp oder Thomas Röper - haben sofort begonnen, die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Bundeswehr-Offiziere nicht einfach ein Fachgespräch geführt haben, sondern dass sie einen Angriff auf Russland geplant hätten. Man versucht, auch Menschen in Deutschland einzureden, dass die Bundeswehr einen Krieg gegen Russland vorbereitet.
Was bezweckt Russland damit?
Damit will man Ängste vor einer russischen Antwort schüren. Dafür versucht die russische Propaganda, an die pazifistische Tradition in Deutschland anzuknüpfen: Für viele Menschen in Deutschland ist Krieg ohnehin ein Alptraum, vor allem ein Krieg gegen Russland. Und diese Tendenzen will der Kreml verstärken. Die politische Destabilisierung ist wichtig. Es gibt ja offensichtlich Dissens innerhalb der Regierungskoalition zum Thema Waffenlieferungen. Mit der Veröffentlichung des Gesprächs versucht Russland, auch die pragmatische Frage zu lösen, nämlich die Lieferung von Taurus-Raketen durch Deutschland nicht zuzulassen.
Und das funktioniert?
Die 100 Raketen, die Deutschland maximal liefern könnte, wären nicht kriegsentscheidend. Sie könnten den Russen aber große Probleme bereiten. Und hier stellt sich die Frage, inwiefern die Veröffentlichung dieses Gesprächs die Lieferung von Taurus beeinflussen wird. Denn die Offiziere torpedieren in ihrem Gespräch das zentrale Argument von Scholz, indem sie sagen, man könne alles so organisieren, dass keine Deutschen vor Ort sind. Die Begründung von Scholz, warum er gegen eine Taurus-Lieferung ist, wird somit zumindest in Frage gestellt. Deshalb ist es für mich nicht eindeutig, wie die ganze Geschichte die Taurus-Debatte beeinflussen wird.
Glauben Sie, dass diese Veröffentlichung die Taurus-Diskussion in die Richtung drehen kann, dass Scholz sich doch noch für die Lieferung entscheidet? Dann hätten sich die Russen mit der Abhör-Geschichte selbst ins Knie geschossen.
Ich glaube, man sollte die russische Expertise nicht überbewerten. Die russische Führung lässt sich offenbar nicht unbedingt von Fachleuten beraten, wenn sie Entscheidungen solcher Natur trifft. Wir haben es mit Wladimir Putin zu tun, der sich selbst wohl für den wichtigsten Experten in Sachen Deutschland hält. Er kann die Sprache, er meint, sich mit Deutschland auszukennen. Doch seine Vorstellung von Deutschland ist sehr spezifisch. Möglicherweise glaubt er, dass das heutige Deutschland kein unabhängiger Staat mehr ist: Dass die deutsche Regierung nicht die Interessen der Bürger, sondern vielmehr die der Vereinigten Staaten bedient. Denn ein Narrativ, das immer häufiger von der russischen Seite kommt, lautet, dass die Bevölkerung in Deutschland endlich diese Fremdherrschaft abschütteln sollte. Putins Logik ist, dass, wenn man so was in Deutschland verbreitet, es tatsächlich zu Unruhen und zur Destabilisierung Deutschlands führen kann.
Die Mehrheit der Deutschen ist gegen die Taurus-Lieferungen. Kanzler Scholz hat sich festgelegt. Aber wir haben im Laufe des Krieges schon mehrere Situationen gesehen, in denen er seine Position aufgrund von Gegebenheiten änderte. Ich würde nicht ausschließen, dass wir in zwei, drei Monaten eine ganz andere Situation haben. Und dann wird die Bundesregierung die Lage neu bewerten müssen und vielleicht eine andere Entscheidung treffen. Deshalb ist es aus russischer Sicht ein riskantes Spiel.
Im Moment scheint aber der Kreml mit der Aufnahme sein Ziel erreicht zu haben.
Die ganze Sache macht Scholz nicht beliebter bei der Bevölkerung. Aber wenn es so weit kommt, dass die Koalition zerfällt und es eine neue Bundesregierung gibt, dann wird die mit großer Wahrscheinlichkeit von der Union geführt werden. Und die Position der Union ist ja bekannt: Sie würde die Taurus-Raketen liefern. Von daher schwächt dieser Skandal sicherlich Scholz und Pistorius, aber er kann auch für Russland zum Problem werden. Ich glaube jedoch, so strategisch denkt man im Kreml nicht. Man denkt an kurzfristige Erfolge.
Warum steht ausgerechnet Deutschland so oft im Visier der russischen Propagandisten? Sie haben bereits von historischen Gründen gesprochen. Gibt es noch weitere Erklärungen dafür?
Dafür ist ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren verantwortlich. Historische Gründe spielen eine große Rolle. Zweitens ist auch sicherlich die Vorstellung von der deutschen Dominanz in Europa wichtig. Für viele Menschen im postsowjetischen Raum ist Deutschland ein Symbol Europas. Und gleichzeitig wird Deutschland von der russischen Propaganda als Schwachstelle in Europa betrachtet. Außerdem gibt es die Vorstellung, dass viele Ostdeutsche nach wie vor russlandfreundlich eingestellt seien. Deutschland hat auch die größte russischsprachige Community in Europa. Das sind Menschen, die die Propaganda direkt in russischer Sprache erreichen kann. Und ein weiterer wesentlicher Faktor ist, dass kein anderer europäischer Staat bisher so viel für die Ukraine getan hat wie die Bundesrepublik.
Mit der Veröffentlichung der Aufnahmen haben die Russen ihre Abhörfähigkeiten offengelegt. Die Bundeswehr wird nun sicherlich besser auf die Sicherheit achten. Hätten die Russen nicht besser weiter im Verborgenen abhören sollen, in der Hoffnung, irgendwas wirklich Wichtiges zu erfahren?
Hier sind zwei Momente wichtig. Erstens die Überheblichkeit der russischen Regierung, also diese Vorstellung: Wir sind die Besten, wir können alles, wir müssen einfach Stärke zeigen. Und zweitens agieren die Russen längst in vielen Bereichen ganz offen. Man schaltet nicht nur bestimmte Personen aus und führt bestimmte Aktionen durch, sondern man bestreitet seine Beteiligung gar nicht, um die übrigen Gegner einzuschüchtern. Es geht darum, die Vorstellung zu suggerieren, dass Russland übermächtig ist, dass man sich mit Russland besser nicht einlassen sollte. Die Idee ist, dem Westen zu zeigen: Niemand kann wissen, was von diesem Russland zu erwarten ist. Vielleicht setzt man auf die alten Vorstellungen von "wilden Barbaren" aus dem Osten, die im Deutschen Kaiserreich Anfang des 20. Jahrhunderts noch verbreitet waren. Nach dem Motto: Diese Russen sind nicht vorhersehbar, ihnen ist einiges zuzutrauen. Und wenn man mit Menschen zu tun hat, die so unberechenbar sind, die dich abhören und das nicht einmal verheimlichen, dann sollte man sie vielleicht in Ruhe lassen.
Und geht die Strategie auf?
Ja, die Angst eines Krieges mit Russland ist in der deutschen Bevölkerung definitiv vorhanden. Ich glaube, wir machen in unserer Analyse von dem, was die russischen Amtsträger sagen, manchmal eklatante Denkfehler. Sie sagen, was sie sagen, und wir versuchen, etwas Verborgenes darin zu finden. Weil das, was da ausgesprochen wird, dermaßen unerträglich und unvorstellbar ist, dass man nur den Kopf schütteln und sagen kann, das sei alles nur Rhetorik. Aber wenn Putin sagt, dass die Ukraine als Staat nicht existieren sollte, dann ist es ja ziemlich eindeutig. Er sagt in diesem Fall genau das, was er meint.
Heißt das, wenn der Kreml von einem Atomkrieg mit Europa spricht, sollte man das ernst nehmen?
Gerade in der deutschen Geschichte gibt es ein erschreckendes Beispiel: Hitler hat etliche seiner Verbrechen bereits in den 1920er-Jahren angekündigt. Viele Zeitgenossen haben seine Worte nicht ernst genommen und gesagt: "Na ja, das hat er zwar geschrieben, aber wer kommt schon auf die Idee, sowas umzusetzen?" Deswegen sollte man registrieren, was Putin sagt, sich davon aber nicht einschüchtern lassen. Klar, das primäre Ziel solcher Aussagen ist es, die europäische Gesellschaft einzuschüchtern. Aber wenn solche Sachen schon ernsthaft ausgesprochen werden, wer gibt uns eine Garantie, dass das nicht auch wirklich irgendwann passiert?
Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou
Quelle: ntv.de