
Viele chinesische Krankenhäuser sind nach dem Ende der strengen Corona-Politik überfüllt.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Chinas Null-Covid-Politik ist Geschichte. Wie befürchtet, schießen die Infektionszahlen durch die Decke. Krankenhäuser und Krematorien sind überlastet. Um neue Protestwellen zu vermeiden, wird sich die Regierung jetzt ins Zeug legen, erwartet ein China-Experte.
Stundenlang stehen die Menschen in China in der Kälte vor den Krankenhäusern an. Drinnen liegen Menschen dicht an dicht, teils auf dem Boden, sie werden mit Sauerstoffmasken beatmet. Auch die Krematorien kommen nicht mehr hinterher. Vor den Apotheken - lange Schlangen. Die Regale sind aber längst leer gekauft. Viele Medikamente gegen Erkältung oder Fieber und auch Corona-Tests sind vergriffen.
Corona hat China mit voller Breitseite erwischt. Wie viele Menschen infiziert sind, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen. Die Gesundheitsbehörde hat den Überblick verloren. Die Massentests sind abgeschafft. PCR-Tests sind nicht mehr Pflicht. Und die staatliche Corona-App ist seit Mitte Dezember abgeschaltet.
Allein in Peking ist schätzungsweise über jeder Zweite mit dem Coronavirus infiziert. Das wären über zehn Millionen Menschen. Ähnlich vage sieht es bei den Todeszahlen aus. Offiziell wurden in China gerade einmal rund 5000 Todesfälle gemeldet - es dürften aber viel, viel mehr sein.
"Ablegenene Gebiete erstmals mit Virus konfrontiert"
Anfang Dezember hat China seine harte Null-Toleranz-Politik plötzlich gekippt. Das sei ein "Riesenexperiment", sagt Helwig Schmidt-Glintzer im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Er ist Direktor des China Centrum Tübingen und einer der bedeutendsten Sinologen Deutschlands. "Sehr viele Menschen, auch in abgelegenen Gebieten Chinas, werden vielleicht erstmalig mit diesem Virus konfrontiert. Wir wissen nicht, wie der Antikörperstatus der Dorfbewohner über 70 irgendwo in West-China damit umgehen wird", sagt der China-Experte. Die Risiken seien nicht zu überblicken.

Der studierte Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer ist Direktor des China Centrum Tübingen und Professor an der Universität Göttingen.
(Foto: Helwig Schmidt-Glintzer)
Kurz zuvor hatte es wütende Proteste gegeben. Arbeiter, Studenten, Straßenhändler - im ganzen Land protestierten hunderte Menschen gegen die strengen Corona-Maßnahmen und Staatschef Xi Jinping. Die Polizei schlug die Demonstrationen brutal nieder.
Daraufhin gab es die ersten vorsichtigen Lockerungen. Zunächst wurden Quarantäne und Testpflichten gelockert oder ganz abgeschafft und die Massen-Lockdowns beendet sowie schließlich das Ende von Null Covid beschlossen. Die Begründung: Die Infektionen mit den neuen Omikron-Varianten seien nicht mehr so schwer.
Die Wahrheit ist laut WHO, dass selbst die strengen Kontrollen die ansteckende Corona-Varianten ohnehin nicht mehr aufhalten konnten.
Krankenhäuser sind unterfinanziert
Für Helwig Schmidt-Glintzer war der Sinneswandel der Regierung wenig überraschend. Die Wirtschaft habe Druck gemacht. Null Covid hat sie extrem belastet. "Es wurde sichtbar, dass diese Null-Covid-Politik eigentlich nicht mehr tragbar war." Das sei vielen klar gewesen. "Im Nachhinein könnte man sich fast zu der kühnen Behauptung versteigen und sagen, die Proteste waren geradezu die Hilfe für die Regierung. Die Regierung musste nun reagieren und sie hat reagiert", sagt Schmidt-Glintzer im Podcast.
Danach passierte das, was Experten schon lange befürchtet hatten. Die chinesischen Krankenhäuser werden von Infizierten regelrecht überflutet. Von allem ist zu wenig da: Betten, Medikamente, Blutkonserven, Gesundheitspersonal. Die infizierten Patienten stecken die Ärzte und Pfleger an. Die Kliniken haben zu wenig Geld, um mehr Patienten aufzunehmen. Statt Krankenhäusern wurden in den vergangenen drei Jahren Quarantänelager gebaut. Es gibt auch keine Medikamentenvorräte.
Das Land war anscheinend wenig vorbereitet auf diese schlimme Corona-Welle. Obwohl die Regierung eigentlich ein Ende der strengen Regeln - mit den ständigen Corona-Tests und Lockdowns - geplant hatte. Nur nicht so schnell, wie es dann passiert ist. "Dieses System ist nicht so einfach zu beenden", ordnet der China-Experte ein. "Gebietskörperschaften, Städte und Landkreise lernen nicht über Nacht. Da gibt es Verzögerungen und Eigensinnigkeiten."
Mehr Fieberstationen und Intensivbetten
Infizierte mit leichten oder gar keinen Corona-Symptomen sollen inzwischen in ihrer Wohnung in Quarantäne bleiben, um das Gesundheitssystem zu entlasten. Vor einigen Monaten war das noch undenkbar. Einige Metropolen wie Chongqing und Guiyang oder die Provinz Zhejiang erlauben es Covid-19-Erkrankten sogar, arbeiten zu gehen, wenn sie keine oder nur leichte Symptome haben, berichtet die parteinahe Zeitung "Global Times".
Um der vielen Infektionen Herr zu werden, baut die Regierung die medizinische Versorgung aus. Sie hat zehntausende Fieberkliniken in Krankenhäusern aufgemacht, 14.000 in großen Krankenhäusern, 33.000 in kommunalen Krankenhäusern.
Außerdem gibt es jetzt doppelt so viele Intensivbetten als noch vor einem Monat, berichtet die parteinahe Zeitung "Global Times". Momentan sind es demnach 10 Betten pro 100.000 Menschen. Das wären aber immer noch viel weniger als zum Beispiel in Taiwan oder Kasachstan.
Protestbereitschaft nach wie vor hoch
China-Experte Helwig Schmidt-Glintzer ist optimistisch, was Chinas Gesundheitspolitik betrifft. Er glaubt, dass sich die Regierung nun anstrengt, damit die Menschen nicht wieder auf die Straße gehen. "Bilder zeigen, dass es auch in China hoch engagiertes medizinisches Personal gibt und dass es dort natürlich auch den Versuch geben wird, alle zu behandeln, die behandlungsbedürftig sind und keine Vorfälle entstehen zu lassen, in denen Menschen vielleicht sogar berechtigte Kritik nach außen tragen." Jedes Parteimitglied bis auf die unterste Ebene würde darauf achten, keine Proteste entstehen zu lassen. Ansonsten könne derjenige seinen Job in der Partei schnell verlieren.
Corona hat es leicht in China. Millionen ältere Menschen sind immer noch nicht komplett gegen das Virus geimpft. Nur rund 70 Prozent der Über-60-Jährigen und rund 40 Prozent der Menschen über 80 Jahren haben einen Booster bekommen. Bei vielen Chinesen ist die letzte Impfung lange her.
Die Regierung richtet laut der "Global Times" deshalb nun zusätzliche Impfstellen ein. Auch der Abstand zwischen den Impfungen wurde verkürzt.
Ändert China seine mRNA-Impfstoff-Blockade?
Eigentlich achten die Chinesen auf ihre Gesundheit, trauen aber den heimischen Impfstoffen nicht. Nur die sind in der Volksrepublik zugelassen, sie sind aber nicht so wirksam, wie mRNA-Vakzine wie der von Biontech. Momentan dürfen nur Deutsche in China mit Biontech geimpft werden. China will den Impfstoff erst dann für alle genehmigen, wenn die europäische Zulassungsbehörde EMA auch den chinesischen Impfstoff Sinovac zulässt.
Helwig Schmidt-Glintzer prognostiziert dass China seine Linie bald ändern wird. "Ich gehe nicht davon aus, dass China sich abkoppeln wird von dieser pharmakologischen Entwicklung." China wolle nicht nur Importeur, sondern Akteur sein, erläutert der Experte im "Wieder was gelernt"-Podcast. "China möchte immer stärker autonom oder autark werden und nicht abhängig von außen, obwohl es klar ist, dass es in vieler Hinsicht abhängig bleiben wird."
Die Corona-Welle in China hat gerade erst begonnen. 60 Prozent der Bevölkerung werden sich in den nächsten Monaten anstecken, schätzen Gesundheitsexperten. Am Ende werden sich wahrscheinlich 80 bis 90 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen infiziert haben, erwartet der ehemalige Vizechef des nationalen Gesundheitsamtes Feng Zijian laut Staatsmedien. Studien rechnen damit, dass mehrere Hunderttausend bis zu knapp eine Million Menschen sterben werden. Und wenn sich das Virus ausbreitet, sind auch gefährliche Mutationen nicht fern, befürchtet das US-Außenministerium.
Die aktuelle Corona-Welle wird bis März dauern, sagt Helwig Schmidt-Glintzer. In dieser Zeit reisen die Chinesen traditionell durch das Land, unter anderem wegen des Neujahrs- oder auch Frühlingsfestes. Das fällt 2023 auf den 22. Januar. "Das ist dann noch mal ein Prüfstein. Da wird man sehen, ob es da stärkere Restriktionen gibt." Da die chinesische Bevölkerung sehr gesundheitsbewusst ist, würden die Leute mit Masken unterwegs sein und Abstand halten. "Man kann davon ausgehen, dass das Ganze vielleicht auch ohne viele Todesopfer über die Bühne geht."
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Quelle: ntv.de