Reisners Blick auf die Front "Karten eindeutig zugunsten der Russen gemischt"
06.11.2023, 17:14 Uhr Artikel anhören
Ein Interview des ukrainischen Generalstabschefs erregt in der vergangenen Woche großes Aufsehen und ruft sogar Präsident Selenskyj auf den Plan: Walerij Saluschnyj sagt darin, die Ukraine brauche eine "Wunderwaffe", um aus der Pattsituation mit Russland herauszukommen. Oberst Markus Reisner erklärt im wöchentlichen Interview mit ntv.de, woran das liegt und welche das sein könnte.
ntv.de: Präsident Selenskyj hat am Wochenende in einem Interview eingeräumt, dass die Ukraine in einer "schwierigen Situation" stecke, gleichzeitig aber Generalstabschef Walerij Saluschnyj widersprochen, der von einer Pattsituation an der Front gesprochen hatte. Wem geben Sie recht?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Saluschnyj geht in seinem Gastbeitrag im "Economist" sehr hart ins Gericht mit der Situation in der Ukraine. Er trifft einige sehr starke Aussagen, wie zum Beispiel, dass die derzeitige Pattsituation sehr an den Ersten Weltkrieg erinnert. Das Dilemma besteht darin, dass die Ukraine sowie Russland jedes taktische Vorgehen des jeweils anderen auf dem Gefechtsfeld sofort erkennen kann. Durch den Einsatz von vielen Drohnen kommt es dazu, dass keine Seite in die Offensive gehen kann, ohne dass es nicht zu einem unmittelbaren Einsatz von Artillerie und anderer Wirkmittel des jeweiligen Gegners kommt. Saluschnyj gesteht ein, dass die Offensive nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Aus dieser Pattsituation heraus entsteht ein Abnutzungskrieg, bei dem die Karten eindeutig zugunsten der Russen gemischt sind - vor allem, was die Ressourcen betrifft. Diesen Aussagen hat Präsident Selenskyj widersprochen. Aber es gibt auch einige Hintergrund-Interviews mit Leuten aus dem unmittelbaren Umfeld von Selenskyj, wo die Frage gestellt wird, ob er sich die Dinge nicht selbst schönredet.
Und, tut er das?
Seit Beginn des Krieges weise ich darauf hin, dass man die Russen nicht unterschätzen darf. Wenn wir das tun, schaden wir den Ukrainern. Ich habe in den letzten Monaten immer wieder Vergleiche zum Ersten Weltkrieg herangezogen. Die Probleme sind klar: Technologisch sind beide Seiten in einer Pattsituation, weil das Gefechtsfeld gläsern ist: Jeder sieht, was der andere tut. Die Russen wissen, dass die Ukraine genau so viel Unterstützung vom Westen bekommt, dass sie zwar nicht sterben muss, aber doch zu wenig, um wirklich leben zu können. Das sieht man nach fast 20 Monaten sehr gut. Aufgrund der Situation im Nahen und Mittleren Osten spitzt sich die Situation noch weiter zu, weil es bereits zu einer Umschichtung der Ressourcen kommt. Mittlerweile haben sogar viele Journalisten die Ukraine verlassen, um nach Israel zu gehen. Der Blick der Weltöffentlichkeit ist auf Israel gerichtet, nicht mehr auf die Ukraine.
Selenskyj sagte in dem Interview auch, dass er eine neue Taktik mit "Überraschungsmoment" anwenden wolle. Welche Optionen hat die Ukraine militärisch noch übrig, um das Blatt eventuell zu wenden?
Aus militärischer Sicht bleibe ich bei den Bewertungen von General Saluschnyj. Der sagt sehr klar, dass es eigentlich einer Art Wunderwaffe bedarf, um aus dieser Pattsituation herauszukommen. Er hat sich mit dem ehemaligen CEO von Google, Eric Schmidt, getroffen, was deswegen interessant ist, weil sie versuchen auszuloten, wie moderne technologische Entwicklungen möglicherweise unterstützen können - Stichwort künstliche Intelligenz.
Was erhofft sich die Ukraine mit der Hilfe von künstlicher Intelligenz?
Da geht es weniger um das überlegte Handeln einer Maschine, sondern um die Analyse von großen Datenmengen. Zum Beispiel, wenn Sensoren ein Gefechtsfeld abgrasen und so schnell erkennen können, wo mögliche Ziele sind. Die Ukraine erhofft sich dadurch eine Verbesserung. Dazu kommt das elektromagnetische Feld als Domäne: Kiew hat erkannt, dass man die russischen Drohnen vom Himmel herunterholen muss, um mit den eigenen Drohnen Erfolge zu haben. Saluschnyj sagt aber zu Recht, dass die Zeit davonläuft. Präsident Selenskyj versucht dagegen, positive Stimmung zu machen. Deswegen kündigt er eine neue Strategie an, mit Überraschung und Täuschung zu arbeiten. Sein General holt ihn aber wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Bisher gibt es diese "Wunderwaffe" nicht, die sich die Ukraine wünscht. Was wird also in den nächsten Wochen und Monaten passieren? Weiter ein Abnutzungskrieg, bei dem es hohe Verluste auf beiden Seiten gibt?
Wenn keine Seite entscheidend einen Unterschied machen kann, sei es durch die Verfügbarkeit von neuen Technologien oder durch die Verfügbarkeit von neuen und bestehenden Waffensystemen in einer großen Menge, dann bleibt es bei der Situation, dass beide Seiten sich einerseits verteidigen, aber andererseits auch angreifen können. In dieser Situation befinden wir uns jetzt. Das ist, wie auch Saluschnyj sagt, ein Abnutzungskrieg. Die Russen haben circa 150.000 Gefallene, aber aus russischer Sicht macht das nichts, weil sie sie leicht ersetzen können. Ein Potenzial von 145 Millionen Menschen auf russischer Seite ist natürlich ein größeres Wehrpotenzial als auf ukrainischer Seite.
Wie wirkt sich das auf die Front aus?
Russland versucht, so wie letztes Jahr im Herbst und Winter, die Ukraine zu zwingen, ihre kostbaren Reserven auszuspielen. Sie greifen entlang der gesamten Frontlinie an: im Norden bei Kupjansk und Swatowe, etwas weiter südlich bei Bachmut und Awdijiwka. Es gibt auch Beispiele, an denen man sehr gut erkennen kann, wie Russland die Ukraine zwingt, Reserven einzusetzen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eines wäre die 47. Brigade der ukrainischen Armee. Sie wurde mit westlichem Gerät ausgestattet, vor allem mit den kostbaren Kampfpanzern von Typ Bradley und Leopard. Diese Brigade wurde zu Beginn der Offensive am 4. Juni an der Spitze nördlich Melitopol und Tokmak eingesetzt. Weil die Offensive aber praktisch zum Versiegen gekommen ist und der Druck der Russen so stark ist, musste man diese Brigade verlagern, um den Russen bei Awdijiwka etwas entgegenzusetzen. Das erinnert sehr an die Situation bei Bachmut letztes Jahr. Die Ukraine war gezwungen, immer wieder Reserven auszuspielen, die dann gefehlt haben, um an entscheidender Stelle die Offensive voranzutreiben. Die Strategie der Russen ist hier, auf Zeit zu setzen und eine Abnutzung durchzuführen, die die Ukraine auf lange Sicht nur sehr schwer durchhalten kann. Vor allem, wenn ihr der Westen nicht die Mittel gibt, die das ukrainische Militär braucht.
Welche Mittel wären das?
Neben den modernen Technologien, die das elektromagnetische Feld beherrschen können, gehören dazu auch moderne Waffensysteme mit einer entsprechenden Reichweite. Die ATACMS zum Beispiel wurden nur in begrenzter Stückzahl und nur in der alten Version, also mit einer Reichweite von circa 160 Kilometern geliefert. Das dritte Element ist Masse, das Prinzip der Übersättigung. Das heißt, es reicht nicht, nur einen spektakulären Angriff zu starten, wie im Raum Kertsch in den letzten Tagen mit Storm Shadow und Scalp geschehen, von denen offensichtlich nicht wenige abgeschossen worden sind. Sondern es braucht viele, viele gleichzeitig. So etwas könnte die russische Seite tatsächlich an den Kipppunkt bringen und sie zumindest so weit in die Enge treiben, dass sie bereit wäre, Verhandlungen durchzuführen. Aber da sind wir noch nicht.
Die Russen behaupten, sie hätten die ukrainische Offensive bei Saporischschja vollkommen gestoppt. Die Ukraine widerspricht dem. Was lässt sich von außen sehen?
Die Russen haben natürlich sofort den Ball aufgenommen, den ihnen General Saluschnyj zugespielt hat und haben aus den Worten des Generals abgeleitet, dass die Offensive im Prinzip gescheitert ist. Es geht immer darum, den Informationsraum zu dominieren, und die Russen haben sofort versucht, eine entsprechende Dominanz auszuüben. Die Aussagen von Saluschnyj und Selenskyj waren dafür für die Russen perfekt.
Waren diese unterschiedlichen Interviews von Saluschnyj und Selenskyj mit Blick auf den Informationsraum dann überhaupt clever?
Ich denke, der General ist einfach ehrlich. Die Herausforderung besteht aber auch darin, die Moral der Truppen hochzuhalten. Es ist wichtig, ganz klar zu vermitteln, dass man sich auf der Siegerstraße befindet. Nur: Man darf nicht den Kulminationspunkt übersehen, wo die Realität dann nicht mehr dem entspricht, was man in der Propaganda versucht zu vermitteln. Saluschnyj sagt: Seht her, die Situation ist ernst. Entweder ihr helft uns oder wir können es nicht schaffen. Und auch diesen Ball nimmt Präsident Selenskyj auf, indem er darauf hinweist, dass die Ukraine mehr Material und Gerät braucht. Ein bisschen etwas zu liefern und sich dann einzureden, dass die Moral der Russen niedrig und die Moral der Ukrainer hoch ist - da kann man nach mittlerweile fast 20 Monaten Kriegsanalyse klar erkennen: Das ist nicht die Realität.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de