Reisners Blick auf die Front "Die Ukraine wird in die Defensive gedrängt"
30.10.2023, 17:25 Uhr Artikel anhören
Die Ukrainer sehen sich derzeit einem Angriffsschwung der russischen Streitkräfte ausgesetzt.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Oberst Markus Reisner attestiert den ukrainischen Truppen zwar einen bedeutenden Abwehrerfolg bei Awdijiwka nördlich der Stadt Donezk. Aber insgesamt sieht er die Ukraine militärisch derzeit unter Druck. "Russland versucht, die Ukrainer langsam abzunützen", sagt er im wöchentlichen Interview mit ntv.de, das heute etwas kürzer ist, da der Militärexperte derzeit bei der Harvard German American Conference (GAC) in den USA zu Gast ist. "Das Ergebnis sind nun erste langsame Gebietsgewinne im Nordwesten von Awdijiwka, Richtung Stepowe und im Südwesten Richtung Sjewerne."
ntv.de: Im Moment liegt der Fokus der internationalen Aufmerksamkeit nicht mehr auf dem russischen Krieg gegen die Ukraine, sondern auf dem Krieg zwischen der Hamas und Israel. Ist es für die Ukraine ein Nachteil, wenn der Westen sie aus den Augen verliert?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Es ist wichtig immer zu bedenken, dass in jeder Kriegsführung auch die Dominanz im Informationsraum von enormer Bedeutung ist. Die Partei, die diesen Raum dominiert, ist in der Lage, die unterstützende Stimmung und damit die notwendige Ressourcenzuteilung aufrechtzuerhalten. Die Ukraine konnte Erfolge der Russen immer mit eigenen Erfolgen überlagern. Im Moment ist dies jedoch schwierig, da alle Augen auf Israel und den Gazastreifen gerichtet sind. So blieb der nicht bedeutende Abwehrerfolg der Ukrainer bei Awdijiwka nahezu unbemerkt. Die Ukraine versucht nun wieder, in die Schlagzeilen und somit ins Gespräch zu kommen. So würde ich den Versuch im Süden einordnen, bei Cherson über den Dnipro vorzustoßen. Auch die Drohnenangriffe auf der Krim und in Russland passen dazu.
Die Menschen in der Ukraine bereiten sich auf den kommenden Winter vor - und damit auf die drohenden russischen Angriffe auf die Infrastruktur. Kann sich die Ukraine davor besser schützen als letztes Jahr, weil sie weiß, was auf sie zukommt?
Russland hat im vergangenen Jahr ab Oktober versucht, die kritische Infrastruktur der Ukraine nachhaltig zu zerstören. Dabei ist es ihnen gelungen, etwa 50 Prozent der wichtigen Stromversorgung zu treffen, darunter auch einige Umspannwerke. Erst die Lieferungen westlicher Fliegerabwehrsysteme haben eine Änderung der Lage bewirken können. Die Abschüsse von IRIS-T- und Patriot-Batterien sowie von Gepard-Panzern haben geholfen, die prekäre Entwicklung zu stabilisieren. Die Ukraine hat dann direkt mit Reparaturen begonnen und so ist es ihnen gelungen, das Schlimmste zu verhindern. Russland wird allerdings versuchen, an die Angriffe des letzten Winters anzuknüpfen.
Gibt es dafür bereits erste Anzeichen?
In einem Bericht der "New York Times" heißt es, dass die Produktion der russischen Marschflugkörper die Vorkriegsrate bereits wieder überschritten hat. Deswegen ist es notwendig, dass der Westen weitere Fliegerabwehrsysteme und vor allem Munition liefert. Die Entscheidung der deutschen Bundesregierung ein weiteres IRIS-T-System zu liefern, war deshalb richtig. Es wird helfen, die strategische Tiefe der Ukraine zu schützen.
Der kommende Winter bereitet auch den Truppen an der Front Probleme. Zuletzt haben es die Russen geschafft, in Awdijiwka wichtige Höhen zu erobern. Sie haben bereits die ukrainische Abwehr angesprochen - inwiefern war die erfolgreich?
Die Russen haben zwar wichtige Höhen einnehmen können, aber mit sehr hohen Verlusten. Man kann deshalb sagen, dass die erste Phase der russischen Operationsführung im Feuer der ukrainischen Verteidiger gescheitert ist. Das ändert aber kaum etwas am Verhalten der Angreifer, wie wir bereits in den letzten Monaten gesehen haben. Russische Soldaten werden weiter kompromiss- und mitleidlos in ihren Panzern und Schützenpanzern in den Angriff geschickt.
Was ist das Ziel der Russen, wenn sie die eigenen Soldaten in den sicheren Tod schicken?
Russland versucht, die Ukrainer langsam abzunützen. Das Ergebnis sind nun erste langsame Gebietsgewinne im Nordwesten von Awdijiwka, Richtung Stepowe und im Südwesten Richtung Sjewerne. Russland führt dabei laufend neue operative Reserven heran und schafft es auch, sie einzusetzen. Für die Ukrainer wären sie das perfekte Ziel für Luft-Boden-Waffensysteme oder Raketen vom Typ ATACMs mit Clustergefechtsköpfen. Diese Angriffe auf erkannte Bereitstellungsräume der Russen finden zwar statt, sind aber nicht massiert genug, um den Angriffsschwung der Russen zu brechen. Das muss aber das Ziel der Ukraine sein.
Was bereitet den Ukrainern gerade die größten Probleme?
Es sind zwei Punkte. Die Angriffe der Ukraine mittels Storm Shadow und Scalp haben in den letzten Wochen merklich nachgelassen. Die Russen haben weitere Fliegerabwehrsysteme an die Front verlegt und setzen ihre eigenen Kampfflugzeuge wesentlich aggressiver ein als noch vor einigen Monaten. Die Ukraine ist deshalb gezwungen, ihre verbleibenden kostbaren Kampfflugzeuge vom Typ Su-27, Mig-29 und Su-25 sowie die wenigen Su-24-M Bomber zu schützen, und ist daher im Moment in die Defensive gedrängt. Dazu kommt, dass die Russen versuchen, die Ukrainer zum Einsatz ihrer Reserven zu zwingen - das haben sie bereits im vergangenen Winter so gemacht. Das kann man an verschiedenen Angriffen erkennen: bei Kupjansk, Swatowe, Bachmut, Awdijiwka, Wuhledar, Urozhaine, Werbowe und Nowa Kachowka.
Und der zweite Punkt?
Russland setzt zunehmend auf den Einsatz von First-Person-View-Kamikaze-Drohnen. Der Einsatz von Artillerie ist dagegen merklich zurückgegangen. Stattdessen nutzt Russland neben den First-Person-View-Drohnen zunehmend Präzisionsmunition vom Typ "Krasnopol", was eine große Herausforderung für die ukrainischen Streitkräfte ist. Die Drohnen können jede Bewegung auf dem Schlachtfeld erkennen. Die ukrainischen Truppen leiden zudem unter dem massiven Einsatz von russischen Störsystemen, welche versuchen, das elektromagnetische Feld zu beherrschen und somit die Kommunikation und den Einsatz von Drohnen der Ukrainer zu verhindern.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de