Zum Tode von Norbert Blüm Kohls streitbarer Herz-Jesu-Mann
24.04.2020, 15:09 Uhr
Norbert Blüm (1935-2020)
(Foto: imago images/Müller-Stauffenberg)
Norbert Blüm gehört zu den wichtigen Politikern der Bonner Republik. 16 Jahre lang war er Arbeitsminister unter Kanzler Kohl. Doch seit der CDU-Spendenaffäre war sein Verhältnis zu seinem Ex-Chef zerrüttet. Blüm galt als soziales Gewissen der CDU. Er war ein entschiedener Gegner des Neoliberalismus.
"Wenn es nicht anders möglich ist, muss man unter die Räuber gehen." Norbert Blüm hat die Lacher auf seiner Seite. Im Bundestag ist wieder einmal die Mikrofonanlage massiv gestört, und der CDU-Mann scheut sich nicht, in ein Mikrofon, das sich bei der SPD-Fraktion befindet, zu sprechen. Blüm, der inmitten der Genossen steht, läuft zur Hochform auf. Nach seiner Rede hat er es aber eilig, wieder zurück zur Regierungsbank zu kommen.

Mit der SPD lag Blüm mehrmals im Clinch. Hier nimmt er die Roten beim Aachener Karneval aufs Korn.
(Foto: imago images/Dieter Bauer)
Norbert Blüm war ein lebhafter Politiker. Er ging keinem Streit aus dem Weg, Meinungsstärke und eine ungebändigte Lust zum Debattieren zeichneten ihn aus. Blüm gehörte zu der in Deutschland immer rarer werdenden Politikerspezies, die Stimmung in die Bude, sprich den Bundestag, brachte. Ohne Rücksicht auf Verluste stürzte er sich mit seinem Rheinhessen-Slang ins politische Getümmel. Die letzten Lebensmonate müssen für den Christdemokraten ein Horror gewesen sein. Wegen einer Blutvergiftung war Blüm an Armen und Beinen gelähmt. Er war an den Rollstuhl gefesselt. "Mir ist das Glück abhandengekommen, ungehemmt durch die Gegend zu streifen", sagte er im März der "Zeit". Nun ist Norbert Blüm erlöst von seinen Qualen.
Der kleine, rundliche Mann war ein Sozialpolitiker mit Leib und Seele. 16 Jahre lang, von 1982 bis 1998, war er Bundesminister für Arbeit und Soziales. Vom ersten bis zum letzten Tag gehörte er der christlich-liberalen Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl an. Der Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit, das sozialpolitische Begleiten des Einheitsprozesses, der Kampf um sichere Renten und die Einführung der Pflegeversicherung - Blüm hatte in den bewegten Jahren, in denen aus einer kleineren Bundesrepublik eine größere wurde, mehrere dicke Bretter zu bohren. Und er musste dabei massive Attacken und Widerstände aus seiner CDU und vor allem aus der sehr wirtschaftsfreundlichen FDP abwehren beziehungsweise aushalten. Blüm machte dies mit der ihm eigenen Standhaftigkeit und Prinzipienfestigkeit.
Über zweiten Bildungsweg hochgearbeitet
Eine politische Karriere bis fast ganz nach oben war Blüm nicht in die Wiege gelegt worden. Groß geworden war er im hessischen Rüsselsheim, einer proletarischen Stadt, in der viele Menschen beim Autobauer Opel in Lohn und Brot sind. So auch der junge Norbert, der in den 50er-Jahren dort Werkzeugmacher war und sich in der IG Metall engagierte. Eigentlich ein Mann für die SPD, aber Blüm zog es damals zur Adenauer-CDU, um dort in den Sozialausschüssen der parteiinternen Arbeitnehmerorganisation CDA mitzumischen. Später sollte er dieser zehn Jahre lang vorstehen. Doch der junge Katholik konnte und wollte mehr und machte 1961 über den zweiten Bildungsweg das Abitur, um danach studieren zu können: Philosophie, Geschichte, Germanistik und Theologie an der Bonner Universität. Zum Schluss sprang sogar ein Doktortitel heraus.
Der ehemalige Messdiener und Pfadfinder war ein überzeugter Anhänger der katholischen Soziallehre, immer bereit, sich für die Schwachen der Gesellschaft einzusetzen. Er war ein Gegner der Lehren von Karl Marx: "Marx ist tot, Jesus lebt", sagte Blüm einmal. Bei politischen Freunden und auch Gegnern galt der Mann mit der runden, kleinen Brille seitdem als "Herz-Jesu-Marxist".
Und so einen brauchte Helmut Kohl in Bonn, als er am 1. Oktober 1982 nach einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen den Sozialdemokraten Helmut Schmidt vom Deutschen Bundestag zum Kanzler gewählt wurde. Blüm galt zu dieser Zeit als Weggefährte des CDU-Vorsitzenden und wurde von diesem mit dem wichtigen Arbeits- und Sozialressort betraut.
Minister unter Kohl mit freier Hand
Blüm gehörte zu den starken Ministern unter Kohl, denn er war als Repräsentant des christdemokratischen Arbeitnehmerflügels ein wichtiger Machtpfeiler im System des Pfälzers. Der Regierungschef ließ ihm weitgehend freie Hand. Andererseits konnte sich auch Blüm bei wichtigen Vorhaben - als Beispiel sei die Einführung der Pflegeversicherung genannt - der Unterstützung Kohls sicher sein. Die Minister und Ministerinnen der Kohl-Ära kamen und gingen, Norbert Blüm blieb.
Nicht, dass das Verhältnis Blüms zum machtbewussten Kanzler frei von Spannungen gewesen wäre. Im Gegensatz zu Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler und Rita Süssmuth agierte Blüm in Auseinandersetzungen mit Kohl geschmeidiger. Kohl traute sich auch nicht nach dem legendären Bremer Parteitag 1989 an Blüm ran, obwohl dieser zum Kreis der CDU-Politiker gehörte, die ihn auf dem Konvent als Parteichef loswerden wollten. Er brauchte seinen umtriebigen Arbeitsminister. Dennoch sollte der Riss im Verhältnis Blüms zu Kohl nicht mehr zu kitten sein.
Kampf gegen den Neoliberalismus
Zum vollständigen Bruch zwischen den beiden Christdemokraten sollte es zehn Jahre später kommen. Grund war die CDU-Spendenaffäre mit Kohl als Hauptdarsteller. Blüm, nun nicht mehr Minister, hielt mit seiner Kritik gegen seinen ehemaligen Chef nicht mehr hinter dem Berg. Das Ergebnis war Funkstille, bis zu Kohls Tod 2017 redeten beide Politiker nicht mehr miteinander.
Aber das zerrüttete Verhältnis war Blüm zunehmend egal. Denn im Gegensatz zu Kohl, der sich permanent mit der Vergangenheit beschäftigte, widmete sich Blüm der Gegenwart und Zukunft. Der immer stärker um sich greifende Neoliberalismus trieb ihn um. Blüm redete und schrieb dagegen an. Er kritisierte auf dem Leipziger CDU-Parteitag 2003 die Pläne zur Einführung einer Kopfpauschale zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und vertrat die Ansicht, dass die CDU einen Kurswechsel vollziehe, bei dem das Soziale auf der Strecke bleibe. Blüm musste sich ausbuhen lassen, die junge Parteivorsitzende Angela Merkel, mit der er acht Jahre lang gemeinsam am Kabinettstisch gesessen hatte, sprang ihm nicht zur Seite. Der Parteilinke Blüm war in der CDU zu einem Fremdkörper geworden.
Die Sache mit der sicheren Rente
Aber das hielt ihn nicht davon ab, gegen die immer größer werdende Macht der Finanzinvestoren zu Felde zu ziehen. In diesen Fragen war er Ex-CDU-Generalsekretär und Kohl-Feind Geißler sehr nahe - ohne mit diesem in allen Fragen übereinzustimmen. Und Blüm verschonte auch die rot-grüne Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder nicht. Die Agenda 2010 des SPD-Mannes war ihm zutiefst zuwider. Die Hartz-Gesetze nannte er schlichtweg Pfusch. Die Bewahrung des sozialen Friedens in Deutschland besaß für Blüm oberste Priorität.
Im Laufe der Jahre konnte er es auch gut verkraften, dass ihm der Spruch "Die Rente ist sicher" immer wieder um die Ohren gehauen wurde. Es handelte sich aber auch um eine Werbekampagne der Bundesregierung im Jahr 1986, bei der Blüm mit Pinsel und Kleber vor Wahlplakaten auf einer Litfaßsäule posierte. Der eigentliche Werbespruch jedoch lautete: "Denn eins ist sicher: Die Rente."
Solange es die Gesundheit zuließ, nutzte Blüm seine Popularität für sein Anliegen. Er scheute sich nicht, auch in nicht streng politischen Talk-Shows aufzutreten. Diese nutzte Blüm als Plattform, um den politisch Verantwortlichen die Leviten zu lesen.
Mit Norbert Blüm verlieren die Bundesrepublik Deutschland und die CDU einen engagierten Sozialpolitiker. Seine Ratschläge und Mahnungen werden fehlen. Norbert Blüm verstarb am 23. April 2020 im Alter von 84 Jahren in Bonn.
Quelle: ntv.de