Wahlkampf in der Türkei Mit ausländerfeindlicher Hetze gegen Erdogan
23.04.2023, 09:43 Uhr Artikel anhören
Kilicdaroglu beim Wahlkampf in Istanbul. Am 14. Mai finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt.
(Foto: picture alliance / abaca)
Der gemeinsame Spitzenkandidat der türkischen Opposition für die Präsidentschaftswahlen, Kilicdaroglu, führt einen Wahlkampf gegen die Flüchtlinge im Land. Die sozialdemokratische CHP überholt die Regierung rechts.
Er steht nicht weit weg von der türkisch-syrischen Grenze, in der dem vom Erdbeben zerstörten Provinz Hatay. Der Märzhimmel über ihm ist grau, als Kemal Kilicdaroglu in die Mikrofone sagt: "Wir werden unsere syrischen Brüder und Schwestern innerhalb von zwei Jahren in ihre Heimat schicken." Sollte er, der Kandidat der Oppositionsparteien bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai, den amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ablösen, müssten die Geflüchteten die Türkei verlassen.
"Wir wollen in unserem eigenen Land frei leben", sagt Kilicdaroglu, Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP. "Wir wollen nicht, dass sich die demografische Struktur unseres eigenen Landes ändert." Um das abzuwenden, werde er nach einem Wahlsieg eine Annäherung an den syrischen Diktator Baschar al-Assad vorantreiben - um gemeinsam mit ihm eine Lösung der Flüchtlingsfrage zu finden.
Rund zwei Millionen syrische Flüchtlinge lebten bisher in den Gegenden, die besonders stark von den Beben am 6. Februar getroffen wurden, darunter neben Hatay auch Gaziantep, Adana und Kahramanmaras. Innerhalb weniger Tage nach der Katastrophe kehrten laut Medienberichten rund 17.000 Flüchtlinge nach Syrien zurück. Mittlerweile dürften es noch mehr sein; verlässliche Zahlen gibt es kaum.
Weniger Hilfe für syrische Erdbebenopfer
Tausende haben bei der Katastrophe ihr Zuhause verloren. Aber nicht nur das, sondern auch die immer feindlichere Stimmung gegen Syrer dürfte sie zur Ausreise bewogen haben. Schon seit Jahren nehmen die Feindseligkeiten gegen sie zu, verstärkt wurde diese Stimmung nach dem Erdbeben und jetzt im Wahlkampf. In Interviews mit Journalisten erzählten Syrer, sie seien von Türken beschimpft worden. "Diese Hilfsgüter sind für Türken, nicht für Syrer", soll in solchen Fällen geschrien worden sein.
In den sozialen Medien verbreiten sich derweil nicht verifizierte Videos über Plünderungen im türkischen Erdbebengebiet - beschuldigt werden Syrer. Die Flüchtlinge müssen selbst schauen, wo sie unterkommen können. Bei der Einquartierung in Hotels haben türkische Staatsbürger Vorrang. Als in sozialen Netzwerken berichtet wurde, dass syrische Familien in einem Studentenwohnheim untergebracht worden seien, drohte der ultranationalistische Politiker Ümit Özdag von der "Zafer-Partei", der "Partei des Sieges", mit einer Eskalation. Umgehend wurden die Syrer hinausgeworfen. Als nächstes behauptete Özdag, ein Syrer habe im Katastrophengebiet das Mobiltelefon eines Feuerwehrmanns gestohlen. Eine Falschbehauptung, wie sich herausstellte. Dennoch weigerte Özdag sich, sich zu entschuldigen.
Erdogan bezeichnete die Flüchtlinge als "Gäste"
Es sind vertauschte Rollen: Während die Opposition von Erdogan immer wieder die Einhaltung von Menschenrechten fordert, verfolgen insbesondere Vertreter der CHP seit Jahren eine drastische Flüchtlingspolitik. Kein anderes Land der Welt hat so viele Geflohene aus dem benachbarten Bürgerkriegsland aufgenommen wie die Türkei. Vor den Beben lebten in dem Land etwa 3,7 Millionen syrische Schutzsuchende; hinzu kommen mehr als 200.000 Afghanen und Iraker. Ein Abkommen mit der Europäischen Union von 2016 sieht vor, dass Ankara die Zahl der Flüchtlinge begrenzt, die über ihr Staatsgebiet in die EU kommen. Im Gegenzug erhält die Türkei EU-Finanzhilfen in Milliardenhöhe. Auch diesen Migrationspakt will Spitzenkandidat Kilicdaroglu überprüfen lassen, kündigte er an.
Warum die Opposition das Thema bewirtschaftet, ist klar: Sie will Stimmung gegen Erdogan machen. Türken machten die syrischen Flüchtlinge für die steigende Arbeitslosigkeit, für höhere Preise und die Verschlechterung der staatlichen Angebote verantwortlich, stellte bereits 2018 eine Studie der Denkfabrik Brookings fest. Lange Zeit verteidigte Staatspräsident Erdogan die Aufnahme der vielen Flüchtlinge. Er bezeichnete sie als "Gäste" und warb für eine Unterstützung der muslimischen Brüder und Schwestern. Denn die Türkei steht auf der Seite der syrischen Rebellen.
Die Solidarität bröckelt schon länger
Doch je sesshafter die Syrer wurden und je länger die Wirtschaftskrise dauerte, desto schwächer wurde die Solidarität. Es häuften sich Schlagzeilen von willkürlichen Verhaftungen und Abschiebungen nach Syrien. So dokumentierte Human Rights Watch, dass türkische Beamte Syrer zur Unterzeichnung von Formularen für die freiwillige Rückkehr gezwungen und die Flüchtlinge zum Teil misshandelt hatten. Nach Unterzeichnung der Formulare seien die Flüchtlinge zu Grenzübergängen nach Nordsyrien gefahren und mit vorgehaltener Waffe zur Überquerung gezwungen worden. Die Menschenrechtsorganisation stützte sich dabei auf Interviews mit abgeschobenen Syrern.
Auch zu Übergriffen kommt es immer wieder: Etwa im Jahr 2021, als in der Hauptstadt Ankara ein Mob von hunderten Personen Geschäfte und Häuser von Syrern überfiel. Sie schlugen Fensterscheiben ein und plünderten Läden. Zuvor war ein 18-jähriger Türke von einem Syrer erstochen worden. Obwohl die Koalitionsregierung aus Erdogans AKP und der ultranationalistischen MHP seit einiger Zeit ankündigt, rund eine Million Geflüchtete nach Syrien umzusiedeln, ist auffällig, wie oft Kilicdaroglu dieses Thema aufgreift. Ständig wiederholt er, er werde eine härtere Migrationspolitik umsetzen, wenn er an die Macht komme. Die Ankündigung, die Syrer "in ihre Heimat" zurückzuschicken, ist für ihn zum Mantra geworden.
Unterstützung erhält Kilicdaroglu von Parteifreunden. Fikri Saglar, CHP-Politiker in der im Südosten gelegenen Hafenstadt Mersin, behauptete bereits 2017, dass Syrer das HI-Virus ins Land bringen würden. Seit dem Zuzug der Geflohenen werde auch die öffentliche Ordnung vermehrt gestört, etwa durch Diebstahl und Prostitution.
CHP-Bürgermeister schikaniert Ausländer
Hayri Türkyilmaz, Bürgermeister von Mudanya, dachte gar laut darüber nach, den Flüchtlingen den Aufenthalt an der Küste zu verbieten. Vor allem Tanju Özcan, CHP-Bürgermeister in der nordtürkischen Stadt Bolu, sorgte mehrmals für heftige Kontroversen. Kurz nach seiner Wahl im Jahr 2019 verkündete er, Hilfszahlungen an Flüchtlinge einzustellen. Im Jahre 2021 sagte er, dass Migranten zehnmal so hohe Wasserrechnungen zahlen sollten wie türkische Staatsbürger. Außerdem sollten sie auf dem Standesamt satte 100.000 Lira, damals mehr als 7000 Euro, für die Eheschließung hinlegen. Für Türken kostet eine Heirat wesentlich weniger.
Der Sozialdemokrat erließ in seiner Stadt zudem ein Verbot für Schilder in arabischer Schrift. Özcan räumte ungeniert ein, dass diese Schritte Maßnahmen seien, um "Ausländer" zu schikanieren, insbesondere Syrer. "Wir wollen nicht, dass Ausländer hier heiraten, Kinder kriegen und sich in Bolu niederlassen", sagte er. "Wenn ich die Autorität hätte, würde ich Gemeindebeamte einsetzen, um sie gewaltsam rauszuwerfen." Der damalige Justizminister Abdulhamit Gül von der regierenden AKP warf dem Bürgermeister auf Twitter Rassismus vor. Jeder habe gleichen Anspruch auf öffentliche Dienstleistungen, schrieb Gül.
"Die Regierung gibt den Syrern das Geld, das sie den Türken geben sollte", sagt Präsidentschaftskandidat Kilicdaroglu. Wenn ihm Rassismus vorgeworfen wird, dann entgegnet er, es gehe ihm um die Rechte seines Volkes. "Die DNA der Türkei wird verändert", behauptet er.
Quelle: ntv.de