Atatürks Wächter Wie Erdogan die türkische Armee entmachtete
16.04.2023, 17:13 Uhr Artikel anhören
Am 29. Oktober 2022, dem Tag der Republik, nahm Präsident Erdogan an der alljährlichen Gedenkveranstaltung am Mausoleum von Staatsgründer Atatürk teil. 2023 wird die Türkische Republik 100 Jahre alt.
(Foto: picture alliance / AA)
Nach der Staatsgründung ist die Armee Teil der türkischen Identität. Mit mehreren Putschen, die vorgeblich Demokratie und Nation schützen, wird das Militär mächtiger. Dann kommen Erdogan und seine AKP an die Macht.
Jahrzehntelang ist das Militär eine selbstbewusste, mächtige Bastion der Türkischen Republik - die Soldaten gelten als sakrosankt. Obwohl nicht vom Volk gewählt, bewacht die Generalität die Fundamente des Staates, es lässt Ministerpräsidenten erhängen und macht Jagd auf Linke, Rechte, Islamisten und Intellektuelle. Die Generäle müssen manchmal nur drohen, um einen Rücktritt zu erzwingen - und sie werden dabei selbst eine Bedrohung für das Land, in dem die demokratischen Strukturen erst schwach ausgebildet sind.
Wer die Türkei verstehen will, muss die Rolle ihrer Armee verstehen. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ist ein gefeierter Kriegsheld, der auf den Trümmern des Osmanischen Reichs den modernen Nationalstaat erschaffen hat. Er schwört das Militär darauf ein, sein republikanisches Erbe zu verteidigen, gegen jeden religiösen Fundamentalismus vorzugehen und einen Zerfall der Nation zu verhindern. In der Bevölkerung genießt das Militär ein hohes Ansehen, weil es im Ersten Weltkrieg gegen die Alliierten und im Befreiungskrieg gegen die Griechen erfolgreich Widerstand geleistet hat. Ohne Militär würde es die moderne Türkei nicht geben.
Der Militarismus ist denn auch ein zentrales Narrativ im kemalistischen Nationalismus. Es geht dabei auch darum, das Trauma des "schwachen" Osmanischen Reichs zu überwinden; die Europäer nannten es im 19. Jahrhundert den "Kranken Mann am Bosporus". Die Redewendung "Türkün Türkt’ten başka bir dostu yoktur" ("Der Türke hat keinen Freund außer sich selbst") postuliert eine starke Nation angesichts eines Umfelds, das man als feindlich gesinnt wahrnimmt. Die Redensart "Her Türk asker doğar" ("Jeder Türke kommt als Soldat auf die Welt") legt den Türken den Militarismus schon in die Wiege.
Mit jedem Putsch ein bisschen mächtiger
Die Generalität versteht sich als Wächter und Verteidiger gegen innere und äußere Feinde wie auch als Beschützer eines vermeintlich von Krisen überforderten politischen Systems. Entsprechend stellen die Militärs die von ihnen initiierten, tatsächlichen oder angedrohten Staatsstreiche der Jahre 1960, 1971, 1980, 1997 und 2007 als notwendige Aktionen zur Wiederherstellung der demokratischen Ordnung und der nationalen Einheit dar. Eine dauernde Machtausübung ist nicht ihr Ziel. Wenn sie nach ihrem Ermessen die Ordnung im Land wiederhergestellt haben, überlassen sie die weitere Steuerung des Landes den Zivilisten. Ihr Netz aus Kontrollinstanzen bleibt allerdings bestehen - und es wird fortlaufend ausgebaut.
Seine Macht übt das Militär durch formelle und informelle Mittel aus. Es kontrolliert die Politik durch den Nationalen Sicherheitsrat und die Staatssicherheitsgerichte sowie durch verschiedene vom Generalstab eingerichtete Institutionen, etwa durch Gerichte, in denen Militärrichter Zivilisten wegen politisch definierter Vergehen wie Separatismus, Terrorismus und Aktivitäten gegen die Republik verurteilen können. Das wichtigste Instrument ist der Nationale Sicherheitsrat (Millî Güvenlik Kurulu, MGK). Dieser wurde 1933 noch unter anderem Namen gegründet und war für die Sicherheitspolitik zuständig. Nach dem Putschversuch von 1961 wurde der MGK in der Verfassung verankert und hatte gegenüber dem Ministerrat noch eine "unterstützende" Funktion, indem er Sachverhalte "mitteilte". Bei der Verfassungsänderung 1982 wurde dann festgehalten, dass der Ministerrat die Empfehlungen des Sicherheitsrates "mit Vorrang berücksichtigen" müsse.
Obgleich das Gremium formal nur eine beratende Funktion hat, übt es de facto eine militärische Bevormundung aus. Die Militärs sind im Rat in der Überzahl, und der Generalstabschef kontrolliert die zivilen Mitglieder. Zum zeitweise höchsten Entscheidungsgremium wird der MGK schließlich durch den Staatsstreich von 1980, in dessen Folge seine Befugnisse noch weiter ausgedehnt werden. Bis 1983 herrscht der Sicherheitsrat. Die Machtverhältnisse werden erst mit dem Regierungsantritt der AKP mit Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze zugunsten der zivilen Politik verändert. Seit Durchsetzung des "Siebten Reformpaketes" im Juli 2003 hat der Sicherheitsrat nur noch beratende Funktion. "Erdoğan schwächt unsere Armee", kritisiert CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu. "Er schwächt die Türkei, um sich selbst zum starken Mann zu machen."
Auch ein Konzern ist Teil der Armee
Die Armee ist nicht nur ein politischer, sondern auch ein ökonomischer Akteur. 1961 gründet die Junta die Militär-Pensionskasse Ordu Yardımlaşma Kurumu (Solidargemeinschaft der Armee, OYAK). Ziel der Institution ist es, den sozioökonomischen Status der Militärs zu verbessern. Fortan müssen Armeeangehörige zehn Prozent ihres Gehalts zur Kapitalbildung der OYAK entrichten. Im Gegenzug stellt der Pensionsfonds Versicherungen und Zusatzrenten für die Armee bereit.
Vor allem höherrangige Militärs profitieren von der OYAK. Aktive und ehemalige Offiziere erhalten Versorgungsleistungen und genießen diverse Annehmlichkeiten. Sie bekommen zinsgünstige Wohnungsbau- und Heiratskredite und haben Zutritt zu OYAK-eigenen Ferienanlagen und Einkaufszentren. Die OYAK ist zwar dem Verteidigungsministerium angeschlossen, agiert aber wie eine Privatholding. Bereits Ende 1970 zählt sie zu den größten Industriekonglomeraten des türkischen Privatsektors. Die Organisation investiert weltweit in Sektoren wie Eisen-, Stahl- und Zementherstellung, Automobilbau, Chemie und Logistikdienstleistungen. Mitglieder haben zusätzlich zu ihren regulären Altersleistungen aus der staatlichen Pensionskasse Anspruch auf einen erheblichen Ruhestandsbonus aus dem Fonds. Zudem bekommen pensionierte OYAK-Generäle nicht selten Sitze in Verwaltungsräten von Unternehmen mit OYAK-Beteiligung.
"Die Militärs wollten immer das Land regieren. Aber sie wollten das indirekt tun, indem sie die Regierungen das tun ließen, was die Generäle wollten. Denn als sie das Land von 1980 bis 1983 regierten, war das eine Katastrophe für sie. Ihr Putsch fand im Volk zuerst Rückhalt, doch der zerfiel wegen der Korruption im Militär, der Folterungen und der Repressionen", sagt der in Istanbul lebende Experte Gareth Jenkins vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik (ISDP), der eine Studie über das türkische Militär geschrieben hat. "Von da an wollten die Generäle gleichsam wie Aristokraten die dreckige Arbeit nicht mehr selbst machen. Zivile Regierungen sollten das für sie erledigen. Die Militärs sahen sich als die wahren Vertreter des türkischen Volkes. Wenn sie mit einer Regierung unzufrieden waren, sprachen sie gern mit Journalisten und behaupteten, sie seien besorgt ob der politischen Situation. Sie wussten, dass die Journalisten darüber schreiben würden", so Jenkins.
Für die Militärs ist der erneute Wahlsieg der AKP ein Schock
Doch nach den Wahlen vom 3. November 2002 und mit der Bildung der AKP-Einparteienregierung verschieben sich sukzessive die Machtverhältnisse. Gerade erst als Ministerpräsident gewählt, nutzt Erdoğan die Anforderung der EU, das Militär der zivilen Kontrolle zu unterstellen, zu seinen Gunsten. Die nun angestoßene Reformwelle ermuntert auch Zivilisten, sich kritisch über die Armee zu äußern. Die zahlreichen indirekten und direkten Militärinterventionen haben dazu geführt, dass sich nicht nur konservative Muslime, sondern auch liberale Intellektuelle und Journalisten von den Militärs entfremdet haben.
Schwache Regierungen haben es den Generälen lange Zeit leicht gemacht, aus dem Hintergrund das Land zu steuern oder per Putsch einzugreifen. Mit der entschlossenen AKP wird das schwieriger. Während der ersten beiden AKP-Regierungen zwischen 2002 und 2007 kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der Exekutive und dem Militär. Anlässe dafür sind etwa der Versuch der AKP, das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen aufzuheben. Zur ersten heftigen Konfrontation kommt es 2007, als Außenminister Abdullah Gül, ein AKP-Gründungsmitglied, zum Staatspräsidenten befördert werden soll. Damit wäre er der erste Politiker in dem Spitzenamt, dessen Ehefrau ein Kopftuch trägt. Für das Militär ist dies ein Verstoß gegen den Laizismus. Der Generalstabschef interveniert in Form einer Stellungnahme, die auf der Website des Generalstabs veröffentlicht wird. Doch Ministerpräsident Erdoğan nimmt dieses Duell an und widerspricht dem Militär. Drei Monate später erringt die AKP einen überwältigenden Wahlsieg, und Erdoğan sichert sich Güls Aufstieg ins Präsidentenamt. "Das war ein Schock für die Militärs. Sie verstanden nicht, warum so viele Menschen für die AKP stimmten", sagt Jenkins.
Nach dem Wahlsieg 2007 sieht es die AKP nicht mehr als notwendig an, einen Dissens mit dem Militär zu vermeiden. Die Unantastbarkeit der Generäle gehört nun der Vergangenheit an. So beginnen im Oktober 2008 die ersten Gerichtsverfahren gegen Militärs. Man wirft ihnen vor, Teil eines angeblichen geheimen Netzwerks namens Ergenekon zu sein und unter der Bezeichnung "Vorschlaghammer" (Türkisch: Balyoz) Planspiele für einen Umsturz der AKP-Regierung durchgeführt zu haben.
Hunderte Militärs wandern ins Gefängnis
Seit 2007 geht die Justiz gegen das ultranationalistische Ergenekon-Netzwerk vor, das die Generalstaatsanwaltschaft als terroristische Vereinigung einstuft. Dem mutmaßlichen Geheimbund sollen ehemalige Offiziere, Anwälte und Journalisten angehören. Gemäß den Anschuldigungen streben sie eine Wiedererrichtung des Großtürkischen Reichs an. Mit inszenierten Terrorakten - so die Vorwürfe - wollten sie versuchen, das Land zu destabilisieren, um dem Militär eine Machtübernahme zu ermöglichen.
Hunderte Personen werden festgenommen und angeklagt, unter ihnen ranghohe Militärs wie der frühere Generalstabschef Ilker Başbuğ. Die Angeklagten weisen alle Vorwürfe zurück. Zur Prozesslawine gibt es unterschiedliche Stimmen: Für die einen sind die Verfahren ein wichtiger Schritt, um die Armee unter zivile Kontrolle zu bringen. Andere sehen darin eine von der Regierung gesteuerte Jagd, um mächtige Gegner und unliebsame Gegner zum Schweigen zu bringen, zumal unter den Festgenommenen und Beschuldigten auch kritische Journalisten und Intellektuelle sind.
2012 erhalten im Rahmen des Balyoz-Verfahrens mehrere hundert Militärs teils lebenslange Haftstrafen. Ein Jahr später werden auch im Ergenekon-Prozess Hunderte "wegen gewaltsamen Umsturzversuchs" zu langen Haftstrafen verurteilt. Doch sind die Ergenekon- und Balyoz-Prozesse nicht der letzte Schritt bei der Zurückstufung der Generäle. Der erfolgt nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016.
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem am 26. April erscheinenden Buch "Die gespaltene Republik: Die Türkei von Atatürk bis Erdogan".
Quelle: ntv.de