Politik

Wahlnachlese bei Caren Miosga "Wunderglaube bei SPD größer als in der katholischen Kirche"

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Bei Caren Miosga (Mitte) diskutierten am Sonntagabend (v.l.n.r.): Dagmar Rosenfeld, Franziska Brantner, Alexander Schweitzer und Jens Spahn.

Bei Caren Miosga (Mitte) diskutierten am Sonntagabend (v.l.n.r.): Dagmar Rosenfeld, Franziska Brantner, Alexander Schweitzer und Jens Spahn.

(Foto: ©NDR/Thomas Ernst)

Das Wahlergebnis steht erst nach der Sendung fest, doch bei Caren Miosga loten CDU, SPD und Grüne schon vorher eine künftige Zusammenarbeit aus. Dass dies nicht ganz einfach wird, ist schon im Vorfeld klar.

Selbst die frühere Bundeskanzlerin wird an diesem denkwürdigen Wahlabend noch zitiert. Als Moderatorin Caren Miosga wissen will, ob Union, SPD und Grüne das mit der Regierungsbildung hinkriegen würden, sagt Dagmar Rosenfeld: "Sie müssen". Die Journalistin zitiert Angela Merkel. Es sei "alternativlos", dass die Parteien aus der demokratischen Mitte eine handlungsfähige Regierung hinbekommen.

Ob das wirklich realistisch und vor allem zeitnah umzusetzen ist, mit dieser Frage beschäftigt sich die ARD-Talksendung - noch bevor das amtliche Endergebnis und damit die künftige Sitzverteilung im Bundestag feststehen. Neben Rosenfeld, die Mitherausgeberin von "The Pioneer" ist, sind CDU-Politiker Jens Spahn, der rheinland-pfälzische Ministerpräsident von der SPD, Alexander Schweitzer, und die Grünen-Vorsitzende Franziska Brantner geladen. Die Gäste sind sich einig, dass Gefahr im Verzug ist und eine Einigung drängt. Doch der teils unversöhnliche Wahlkampf und die Ereignisse der vergangenen Wochen hallen noch nach.

Zunächst einmal gibt Moderatorin Miosga den Anwesenden die Gelegenheit, sich zu den bis dato bekannten Wahlergebnissen zu äußern. Zur Sendezeit hat das BSW noch Chancen, die Fünf-Prozent-Hürde zu meistern. Für Rosenfeld lautet die Überschrift des Abends daher: "Alles ist noch unsicher". Bei Spahn ist die Freude über den Wahlsieg zwar da, doch ein paar Prozent über 30 wären dann doch "gut gewesen". Er liest jedoch aus der Abstimmung: Friedrich Merz wird der nächste Kanzler, die Ampel ist abgewählt und Olaf Scholz geht in die politische Rente.

"Noch eine Wahl weg von französischen, österreichischen, niederländischen Verhältnissen"

Ob die von der Union beschworene Politikwende jetzt tatsächlich kommt, das wird sich noch zeigen. Die Frage sei, ob die Probleme gelöst werden können, die das Land hat, sagt Spahn und meint unter anderem die "illegale Migration" und Rezession. "Wir müssen uns jetzt alle schon Gedanken über die Wahl 2029 machen", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion. Deutschland sei "noch eine Wahl weg von französischen, österreichischen, niederländischen Verhältnissen". In Deutschlands Nachbarländern hat sich unter anderem die Regierungsbildung schwierig gestaltet. Rechtsradikale Parteien haben starke Wahlergebnisse erzielt.

Auch in Deutschland hat die AfD über 20 Prozent der Stimmen erhalten. Doch an eine Regierungsbeteiligung der in Teilen gesichert rechtsextremen Partei ist nicht zu denken. Die SPD hingegen wird aller Wahrscheinlichkeit nach wieder in der Regierung sitzen. Dabei hat sie nach Ansicht Schweitzers bei der Bundestagswahl ein "miserables Ergebnis" erzielt. Das sei nicht das, "was man sich wünschen würde, wenn man den Kanzler stellt und mit dem Kanzler ins Rennen geht". Für den Ministerpräsidenten ist klar: Die "auseinander geflogene" Ampel hat das Vertrauen der Menschen verloren.

Dass die SPD trotz amtierendem Kanzler massiv verloren hat, reißt Miosga zu der Frage hin, ob der Amtsbonus diesmal ein Amtsmalus gewesen sei. Schweitzer gibt sich diplomatisch. In guten, wie auch in schlechten Zeiten werde die Spitze der Regierung nun mal an ihrer Leistung gemessen und für den Zustand des Landes verantwortlich gemacht. Franziska Brantner ist dahingehend weniger selbstkritisch. Die Grünen hätten sich aus einer schwierigen Situation nach oben gekämpft, Spitzenkandidat Robert Habeck habe einen "klasse Job" gemacht.

Der selbst gab in Interviews am Abend Friedrich Merz und dessen gemeinsamer Abstimmung mit der AfD über das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz eine Mitschuld für das schwache Wahlergebnis seiner Partei. Damit seien die Ränder gestärkt worden, so Habeck im Gespräch mit RTL/ntv. "Das muss man sich auch mal klarmachen, dass das Verhalten der Union dafür gesorgt hat, dass die demokratische Mitte schwächer geworden ist." Brantner erklärt das im Nachgang in der Sendung so: Die Grünen hätten sich dazu bereit erklärt, Verantwortung zu übernehmen, zu gestalten und auch nach der Wahl mit der Union von Merz zusammenzuarbeiten. Das hätten ihnen viele Wählerinnen und Wähler übel genommen.

Die populärsten Kandidaten gehen nicht ins Rennen

Im Vergleich zu früheren Kandidatinnen und Kandidaten der Union erfreute sich Merz nicht allzu großer Beliebtheit. Miosga will von Spahn wissen, ob das an der impulsiven, erratischen Art des CDU-Chefs liege. Der Angesprochene weicht in seiner Antwort aus, verspricht aber politische Führung durch Merz und die Union. SPD-Politiker Schweitzer ist in seinem Urteil weniger gnädig: Er stellt infrage, ob Merz wirklich verlässlich ist. Er wisse nicht, ob der wahrscheinlich künftige Kanzler "von morgens bis abends eine Strategie durchhält".

Dagmar Rosenfeld legt den Finger in die Wunde. Was Union und SPD aus ihrer Sicht gemeinsam haben: "Sie haben beide nicht den populärsten Kandidaten aufgestellt." Ansonsten hätten Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Verteidigungsminister Boris Pistorius ins Rennen geschickt werden müssen. Was sie bei Merz beunruhigt: Er habe nach der Bluttat in Aschaffenburg emotional reagiert.

Es folgten bekanntlich die Abstimmungen mit der AfD im Bundestag. Rosenfeld fragt: Darf sich ein Kanzler von seinen Emotionen leiten lassen? Und könnten die formulierten roten Linien, wie der Fünf-Punkte-Plan zur Migration, auch in einer Koalition eingehalten werden? Oder werden die Erwartungen, die durch das vorgeblich kompromisslose Verhalten geweckt wurden, enttäuscht?

Auch die SPD "ist sehenden Auges mit dem unbeliebtesten Politiker ins Rennen gegangen", bilanziert die Journalistin. "Ich habe mir gedacht, dass der Wunderglaube bei den Sozialdemokraten offenbar größer ist als in der katholischen Kirche." Da muss selbst Alexander Schweitzer schmunzeln. Eine Aufholjagd unter Scholz sei utopisch und nur mit gravierenden Fehlern von Union und Merz möglich gewesen, sagt Rosenfeld. Der "Antifaschismus-Wahlkampf", den die SPD nach den Migrationsabstimmungen geführt habe, habe letztlich nur der Linkspartei genützt.

Trump und Vance stoßen Umwälzungen an

In der Tat standen sich die Unionsparteien auf der einen sowie SPD und Grüne auf der anderen Seite zuletzt recht unversöhnlich gegenüber. Ob mit einem kompromisslosen Merz eine stabile Regierung zu machen ist, wird in der Runde eifrig diskutiert. Spahn spricht sich für ein Ende der illegalen Migration aus, da solle die Problemanalyse bei den besagten Parteien die gleiche sein. Schweitzer, der sein Bundesland ausgerechnet mit einer Ampel-Koalition regiert, fordert eine Änderung der Tonlage seitens der Union. Inwiefern sich beide Seiten bei den Themen Grenzkontrollen, Abschiebungen, Drittstaaten-Lösungen und so weiter einigen können, bleibt in der Sendung unbeantwortet. Alles andere wäre am Wahlabend auch überraschend gewesen.

Grünen-Chefin Brantner nimmt Europa in den Blick und warnt davor, die anderen EU-Staaten durch Alleingänge in der Migrationsfrage vor den Kopf zu stoßen. Für sie soll Deutschland ein Land bleiben, in dem Menschen willkommen sind und nicht Angst haben müssten, abgeschoben zu werden, obwohl sie gut integriert sind und einer Arbeit nachgehen, nur weil sich die "Blauen" - gemeint ist die AfD - durchsetzten. Gleichzeitig müsse mit denen "tough" umgegangen werden, die sich "nicht korrekt verhalten". Es gelte das Prinzip von "Humanität und Ordnung".

Die durch Donald Trump und seinen Vize J.D. Vance zuletzt prominent propagierte Änderung im Verhältnis zu Russland und Europa nennt Rosenfeld einen "Epochenbruch". Beim Thema Sicherheit und Verteidigung sind sich alle Anwesenden einig, dass viele Milliarden Euro dafür ausgegeben werden müssen. Nur wo das Geld herkommt und ob dafür ein Sondervermögen aufgesetzt oder die Schuldenbremse reformiert oder die europäischen Fiskalregeln auf den Prüfstand gestellt werden müssen, darüber wird noch zu diskutieren sein. Klar ist nur: Auf die USA ist kein Verlass mehr. Eine Anbiederung an Russland und ein "Verrat" an der Ukraine sind keine Option.

Die Alternative "ist blau"

Doch groß eingehen können die Gäste auf diese inhaltlichen Themen nicht. Am Sonntagabend ist es nicht viel mehr als ein Wiederholen altbekannter Einstellungen aus dem Wahlkampf und vorsichtiges Abhorchen künftiger Zielsetzungen. Auch bei den Personalien gibt es nicht viel Erhellendes. Olaf Scholz hat klargestellt, dass er als Kanzler angetreten ist und dementsprechend einer Regierung unter Kanzler Merz nicht mehr angehören möchte. Die SPD wird Parteichef Lars Klingbeil nach der Sendung als zukünftigen SPD-Fraktionschef positionieren.

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Um kurz vor 2 Uhr nachts, also einige Stunden nach der Sendung, wird klar: Das BSW verpasst ganz knapp den Einzug in den Bundestag, es würde also für ein Bündnis aus Union und SPD reichen. Die Grünen wären außen vor. Das passt zu Jens Spahns Äußerungen, dass er sich mit SPD-Verteidigungsminister Pistorius eine gute Zusammenarbeit vorstellen kann. Aber auch in diesem Szenario werden CDU und CSU aller Voraussicht nach Kompromisse machen müssen.

Die Einordnung "alternativlos" möchte Spahn in Bezug auf die Regierungsbildung mit den anwesenden Vertretern von SPD und Grünen nicht einfach hinnehmen. Es stelle sich vielmehr die Frage, ob es eine bessere Alternative gäbe. Daraufhin entgegnet Rosenfeld, die Alternative stehe draußen, "und sie ist blau". Aber das will an diesem Abend nun wirklich niemand.

Quelle: ntv.de

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