"Verzweiflungstat" in Belarus Oppositioneller sticht sich vor Gericht in Hals
01.06.2021, 20:42 Uhr
Stepan Latypow verlor im Gerichtssaal das Bewusstsein und wurde in ein Krankenhaus gebracht.
(Foto: via REUTERS)
Weil er wohl misshandelt wurde und Angst um das Wohl seiner Familie hat, will sich der belarussische Oppositionelle Latypow auf der Anklagebank das Leben nehmen. Derweil wird ein Reporter der Deutschen Welle nach 20 Tagen Haft freigelassen und berichtet von unmenschlichen Bedingungen.
Der belarussische Oppositionelle Stepan Latypow hat im Gerichtssaal versucht, sich das Leben zu nehmen. Latypow sei nach der Befragung seines Vaters auf die Bank in seinem Anklage-Käfig gestiegen und habe mit einem Stift in seine Kehle gestochen, bis er das Bewusstsein verlor, berichtete die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna. Er sei ins Krankenhaus gebracht worden. Wieder auf freiem Fuß ist dagegen nach 20 Tagen Haft ein Korrespondent der Deutschen Welle (DW). Unterdessen erschwert das Regime seinen Bürgern die Ausreise immer mehr.
Der 41-jährige Latypow habe zuvor seinem Vater noch berichtet, dass ihm mit rechtlichen Schritten gegen seine Verwandten gedroht worden sei, wenn er sich nicht schuldig bekenne, berichtete Wjasna weiter. Latypow erschien demnach mit Blessuren vor Gericht.
Latypov hatte sich wie viele Belarussen bei den Protesten im vergangenen Jahr gegen Machthaber Alexander Lukaschenko engagiert. Im September wurde er in der Nähe seines Wohnblocks in Minsk festgenommen und muss sich nun wegen einer Reihe von Anklagepunkten vor Gericht verantworten, darunter wegen Widerstands gegen die Polizei bei seiner Festnahme und der Herstellung von Protestsymbolen.
Der im polnischen Exil lebende Oppositionspolitiker und ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikow sprach auf Twitter von einer "Verzweiflungstat" des 41-Jährigen. Latypow sei "lange geschlagen und gefoltert" worden, erklärte er und fügte hinzu: "Ein weiterer Beweis für den mörderischen Charakter von Lukaschenkos Regime."
Lukaschenko verschärft Ausreiseregeln
Nach der von massiven Betrugsvorwürfen überschatteten Präsidentschaftswahl im vergangenen August hatte es in Belarus beispiellose Massenproteste gegeben, die Lukaschenko niederschlagen ließ. Tausende Demonstranten wurden festgenommen, führende Oppositionelle mussten ins Exil. Nach Angaben von Wjasna sind derzeit 449 politische Gefangene in Belarus in Haft.
Ein Korrespondent der Deutschen Welle (DW) ist indes nach 20 Tagen Haft wieder freigelassen worden. Nach seiner Freilassung klagte Alexander Burakow laut DW-Mitteilung über unmenschliche Haftbedingungen. Zwei Mal pro Nacht sei er aufgeweckt worden und habe sich nackt ausziehen müssen. Außerdem habe er weder Kissen noch eine Decke bekommen und oft gefroren. Einen Hungerstreik habe er nach sieben Tagen wegen gesundheitlicher Probleme beenden müssen. Burakow war im Mai in der Stadt Mogiljow östlich der Hauptstadt Minsk festgenommen worden, als er über einen Prozess gegen Oppositionspolitiker berichten wollte.
Mehrere führende Oppositionelle waren in den vergangenen Monaten angesichts des rigorosen Vorgehens der Behörden und Sicherheitskräfte gegen Regierungskritiker ins Ausland geflüchtet, einige davon heimlich auf dem Landweg. Nun hat Belarus die Restriktionen für die Ausreise seiner Bürger weiter verschärft. Künftig dürfen auf dem Landweg nur noch solche Bürger das Land verlassen, die nachweislich über eine permanente Aufenthaltsberechtigung in einem anderen Staat verfügen, wie der belarussische Grenzschutz über Telegram mitteilte.
EU bereitet Sanktionen vor
Ausreisen mit dem Flugzeug bleiben zwar generell erlaubt. Allerdings sind die Flugziele seit Kurzem stark begrenzt, da die EU als Reaktion auf die Festnahme des Regierungskritikers Roman Protassewitsch Start- und Landeverbote für belarussische Fluggesellschaften verhängt hat. Diplomaten zufolge bereitet die Europäische Union weitere Sanktionen gegen die staatliche belarussische Fluggesellschaft sowie Vertreter der Regierung, des Militärs und der Luftfahrt vor. Auf dem Tisch lägen Landeverbote sowie das Einfrieren von Vermögenswerten, sagten drei mit der Angelegenheit vertraute Diplomaten der Nachrichtenagentur Reuters. "Alle EU-Staaten sind mit diesem Ansatz einverstanden", sagte ein Diplomat. Die EU-Botschafter könnten der Vorlage am Freitag zustimmen, bevor die Außenminister der Mitgliedstaaten dann endgültig grünes Licht geben.
Der Journalist Protassewitsch und seine Partnerin waren festgenommen worden, nachdem ihr Ryanair-Flug auf dem Weg von Athen nach Vilnius mit einem Kampfjet zur Zwischenlandung in der belarussischen Hauptstadt Minsk gezwungen worden war.
Die belarussische Opposition prangerte die jetzt verhängten Ausreiserestriktionen als "absoluten Gesetzesbruch" an. Die Verfassung des Landes nenne keine Bedingungen für die Ausreise auf dem Landweg, schrieb Waleri Kowalewski, der außenpolitische Berater von Oppositionschefin Swetlana Tichanowskaja, auf Twitter. Tichanowskaja lebt im Exil in Litauen.
Quelle: ntv.de, chf/dpa/rts/AFP