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Ungarn in Transkarpatien Orban vergrault seine Landsleute in der Ukraine

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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban glaubt nicht an einen ukrainischen Sieg.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban glaubt nicht an einen ukrainischen Sieg.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

In Transkarpatien, dem südwestlichsten Zipfel der Ukraine, stellen die Ungarn die größte ethnische Minderheit. Jahrelang setzte sich der ungarische Ministerpräsident Orban für ihre Rechte ein, doch seine Putin-freundliche Haltung kostet ihn auch bei seinen Landsleuten viel Kredit.

Von Waffenlieferungen an die Ukraine hält Viktor Orban nichts. Dass die russische Armee im Nachbarland besiegt werden kann, glaubt Ungarns Ministerpräsident auch nicht. Die Ukraine? "Kein souveränes Land mehr", hat der ungarische Regierungschef im Juni in der "Bild"-Zeitung gesagt. Orban will sich aus dem Krieg heraushalten, daran besteht kein Zweifel.

Die Schaukelpolitik kommt beim Rest von NATO und EU nicht gut an - sauer sind mittlerweile aber auch manche Landsleute von Orban. Vor allem die, die in der Ukraine leben und den russischen Raketenterror somit hautnah miterleben.

In der westukrainischen Region Transkarpatien sind etwa 100.000 ethnische Ungarn beheimatet. Die Oblast hat insgesamt knapp über eine Million Einwohner und ist halb so groß wie Mecklenburg-Vorpommern. Sie liegt eingekesselt zwischen Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Dutzende Minderheiten leben in dem Gebiet, die ungarische ist die größte.

Und die ungarische Minderheit ist einer der Gründe, weshalb das Verhältnis zwischen Ungarn und der Ukraine seit Jahren angespannt, gereizt und unterkühlt ist. Denn Kiew versucht seit der illegalen Krim-Annexion durch Russland die nationale Identität zu stärken. 2019 wurde das Sprachengesetz verabschiedet. Dieses sollte den Status des Ukrainischen als Staatssprache festigen, indem andere Sprachen, insbesondere Russisch, im öffentlichen Leben eingeschränkt wurden.

Außerdem gibt es Streit um das ukrainische Bildungsgesetz von 2017. Bisher war es so, dass die Minderheiten bis zum Abitur in ihrer Sprache unterrichtet worden sind. Das gilt jetzt nur noch bis zur vierten Klasse, ab der fünften muss auf Ukrainisch unterrichtet werden. "Das ist ein Knackpunkt für die ungarische Regierung, weil sie damit argumentiert, dass die ungarische Minderheit in ihren Rechten verletzt wird", berichtet Ungarn-Expertin Sonja Priebus von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Diplomatischer Eklat

Das Verhältnis zwischen der Ukraine und Ungarn ist auch deshalb so schlecht, weil Ungarn seit 2010 Pässe an Menschen in seinen Nachbarländern ausstellt, die nachweisen können, dass sie ungarischer Herkunft sind oder Ungarisch sprechen. Doppelstaatsbürgerschaften sind in der Ukraine aber verboten, 2018 kam es zu einem diplomatischen Eklat: Eine nationalistische ukrainische Nichtregierungsorganisation veröffentlichte eine Liste mit den Namen von mehr als 300 ukrainisch-ungarischen Doppelstaatlern. Die Abwerbungsversuche in Form der Passvergabe hätten "die Beziehungen vergiftet", kommentierte selbst ein Fidesz-naher Lokalpolitiker in der "Neuen Zürcher Zeitung".

Doch die ungarische Minderheit in der Ukraine gefiel sich in der Rolle des Zankapfels. Der politische Einsatz von Orban brachte ihnen mehr Einfluss und mehr Geld. Ungarn investiert seit Jahren in die Transkarpatier, zum Beispiel bekommen Eltern Bildungsgeld für ihre Schulkinder. Gleichzeitig bügelt Orban jedes kritische Wort als "hungarophob" ab. "Das ist ein rhetorisches Stilmittel. Alle, die sich gegen die Politik der Regierung aussprechen, werden als hungarophob bezeichnet. Natürlich ist das nicht gerechtfertigt", ordnet Priebus ein.

Doch seit dem Krieg zünden die Vorwürfe beim ungarischen Teil in der Ukraine offenbar nicht mehr so gut. Der Ministerpräsident habe bei den Menschen in Transkarpatien an Glaubwürdigkeit verloren, berichtet die "Financial Times" in einer Reportage aus dem Südwesten der Ukraine. Orban mache sich zum "Spielball" der Russen, wird etwa Jaroslaw Galas zitiert. Der Angehörige der ungarischen Minderheit war stellvertretender Gouverneur von Transkarpatien, bevor er sich im März vorigen Jahres den ukrainischen Streitkräften anschloss.

Die Region im Grenzgebiet zu den vier NATO-Ländern sei in den vergangenen Jahren zunehmend in den Moskauer Fokus gerückt, berichtet Galas. Russland habe versucht, "ethnische Spannungen zu schüren".

Als Beispiel nennt er einen Vorfall aus dem Jahr 2018: Damals hatten polnische Neonazis einen Anschlag mit einem Molotowcocktail auf ein Kulturzentrum in Transkarpatien verübt. Sie sagten aus, ein AfD-Bundestagsmitarbeiter und rechter Publizist habe sie dazu angestiftet und bezahlt. Dieser wiederum hatte einen engen Draht zum russischen Ultranationalisten Alexander Dugin, 2021 starb der AfD-Mann nach einem plötzlichen Herzinfarkt in Moskau.

Abspaltung von der Ukraine?

"Moskau wollte Öl ins Feuer gießen. Die Beziehungen zwischen Budapest und Kiew waren angespannt und Russland sah eine Gelegenheit, in die Sache einzusteigen", so Galas weiter. Damals habe Moskau sogar in Betracht gezogen, Transkarpatien von der Ukraine abzuspalten.

Das ist bekanntlich nicht gelungen. Seit dem Einmarsch in die Ukraine ist die ungarische Minderheit aber unmittelbar von Moskaus Machtphantasien betroffen. Die Front ist zwar Hunderte Kilometer weit weg, einzelne Raketen sind aber auch in Transkarpatien eingeschlagen.

Manche Bewohner haben sich deshalb freiwillig der ukrainischen Armee angeschlossen. So auch Fedir Sándor, Professor an der Nationalen Universität Uschhorod, den Selenskyj inzwischen zum ukrainischen Botschafter in Ungarn ernennen will. "Ungarn ist in unseren Herzen und Gedanken wie ein Vaterland, aber wir leben in der Ukraine, wir sind Ukrainer ungarischer Abstimmung", sagte Sándor der "Financial Times". "Wie die Ungarn, die im Weltkrieg in den amerikanischen und britischen Armeen kämpften, während Ungarn mit Deutschland verbündet war."

Sándor ist nicht der einzige Ungar, der für die Ukraine in die Schlacht gezogen ist. Seinen Berechnungen zufolge sind fast 400 Landsleute an der Front, 31 Ungarn seien bislang im Krieg gefallen. Sie können Orbans Haltung in der Kriegsfrage nicht nachvollziehen.

Wie viel Rückhalt Orban bei den ungarischen Ukrainern noch hat, sei kaum abzuschätzen, sagt Sonja Priebus. Vor dem Krieg hätten ethnische Zugehörigkeiten und politische Fragen in Transkarpatien im Alltag weniger eine Rolle gespielt. Dass angesichts des russischen Angriffs die Loyalität zur ukrainischen Regierung auch bei den Ungarn im Land gestiegen ist, hält die Expertin aber für denkbar und nennt den in der Politikwissenschaft bekannten "Rally-'round-the-flag"-Effekt, demzufolge eine äußere Bedrohung die Unterstützung für die nationale Regierung stärkt. "Das wäre ein Argument für die These, dass der Krieg die Loyalität zur ukrainischen Regierung stärkt. Außerdem hat sich das Image Ungarns in der ukrainischen Bevölkerung extrem verschlechtert, weil natürlich bekannt ist, welche Haltung die ungarische Regierung hat."

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Doch es gibt auch andere Stimmen von denen, die weiter auf ukrainischem Gebiet leben, aber trotzdem zu Orban halten. Je näher an der Grenze zu Ungarn, desto stärker sei das Vertrauen in den ungarischen Ministerpräsidenten, schreibt die "Financial Times". Manch einer stelle sogar seine Uhr eine Stunde zurück, auf die Zeitzone von Budapest.

Priebus hat Ähnliches gehört. Etwa, dass die Haltung Orbans die generelle Skepsis der Ukrainer gegenüber der ungarischen Minderheit im Land erhöht habe. "Im Zusammenspiel mit den beschnittenen Minderheitenrechten könnte das theoretisch auch den Effekt haben, dass sich die Minderheit stärker an der ungarischen Regierung orientiert und vielleicht von der ungarischen Regierung auch eine Art Lösung für die Probleme erwartet", so die Politikwissenschaftlerin.

Wiederum andere Angehörige der Minderheit in Transkarpatien sind längst nach Ungarn oder von da aus in andere EU-Länder umgezogen. Vor allem viele Männer im wehrfähigen Alter seien kurz nach Invasion der Russen ausgereist, schreibt die "Financial Times".

Das führt dazu, dass die ungarische Gemeinde in der Ukraine immer kleiner wird. Wer es mit Orban hält, geht über die Grenze. Wer sich gegen Russlands Aggressionen wehren will, geht an die Front. Heraushalten aus dem Krieg können sich die Ungarn in Transkarpatien anders als Viktor Orban nicht.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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