Politik

Generalleutnant a.D. zur Lage Patt oder nicht Patt - die Zeit spielt für die Ukraine

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Die Offensive der Ukraine hat noch keinen Durchbruch erbracht. Sollte dieser aber der Armee gelingen, könne sich die Lage durchgreifend ändern, meint Kersten Lahl.

Die Offensive der Ukraine hat noch keinen Durchbruch erbracht. Sollte dieser aber der Armee gelingen, könne sich die Lage durchgreifend ändern, meint Kersten Lahl.

(Foto: AP)

Die Ukraine kann in der laufenden Offensive einige Erfolge vorweisen, der große Durchbruch ist bislang aber ausgeblieben. Der frühere NATO-Offizier und Sicherheitsexperte Kersten Lahl analysiert in einem Gastbeitrag die Lage und erklärt, warum ein baldiger Frieden nicht in Sicht ist.

Der Angriffskrieg Russlands gegen seinen Nachbarn Ukraine dauert nun bereits rund eineinhalb Jahre. Wohl kaum jemand kann eine halbwegs gesicherte Prognose wagen, wann und mit welchem Ergebnis diese Tragödie beendet werden kann. Fest steht derzeit nur, dass die Fronten sowohl in der Diplomatie als auch auf dem Gefechtsfeld verhärtet sind. Ging es anfangs vor allem um das nackte Überleben der Ukraine als Staat oder Reststaat, so liegt der aktuelle Fokus eher auf der Frage, wie viel ihres eigenen Territoriums sie zurückzuerobern in der Lage ist. Von einer Niederlage auf breiter Front oder gar Kapitulation ist inzwischen so gut wie keine Rede mehr.

Kersten Lahl ist Generalleutnant a. D., leitete drei Jahre die Bundessicherheitsakadademie und verfasste gemeinsam mit Johannes Varwick das Buch "Sicherheitspolitik verstehen".

Kersten Lahl ist Generalleutnant a. D., leitete drei Jahre die Bundessicherheitsakadademie und verfasste gemeinsam mit Johannes Varwick das Buch "Sicherheitspolitik verstehen".

Entsprechend haben sich offenbar auch die Ziele der beiden Kriegsparteien weiterentwickelt - und zwar bemerkenswerterweise in gegensätzlicher Richtung. Zwar lässt sich auch hier nur spekulieren. Aber die russische Führung scheint sich derzeit - oder besser: vorerst - damit zufriedengeben zu wollen, das zu sichern, was sie zwar völkerrechtswidrig, aber de facto seit 2014 bis heute erreicht hat: Die Besetzung und Einverleibung der Krim sowie der vier ukrainischen Oblaste im Osten und Süden des Landes, von denen freilich große Teile noch gar nicht unter eigener Kontrolle stehen. Das darf man durchaus als eine erzwungene Rücknahme russischer Ambitionen werten, zumindest kurzfristig.

Die Ukraine hingegen sieht die Chance einer strategischen Gegenoffensive, und dies mit deutlich höheren Erfolgsaussichten als noch vor Jahresfrist. Sie erkennt eine reale Möglichkeit, die russischen Invasoren aus ihrem gesamten Territorium wieder zu verjagen - also erklärtermaßen auch von der Krim. Das entspricht unbestritten dem Recht des Verteidigers und scheint zwar höchst schwierig und opferreich, aber infolge der umfangreichen Militärhilfe aus dem Westen inzwischen keineswegs abwegig. Es ist jedenfalls nicht zu erwarten, dass sie sich mit weniger als einer völligen Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität und Souveränität zufriedengeben wird. Und es gibt auch keinen Grund, das nicht zu akzeptieren.

Die Zeit spielt für die Ukraine

Daher sind derzeit die Augen auf die seit dem Frühjahr erwartete militärische Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte gerichtet. Alle fragen sich: Hat sie schon begonnen und ist gleich zu Beginn quasi gescheitert? Oder steht sie noch bevor, weil nach ukrainischer Lagebeurteilung die hinreichenden Voraussetzungen nach Kräften, Raum und Zeit noch nicht hergestellt sind? Von außen lässt sich das kaum seriös beurteilen. Aber zwei Thesen darf man in aller Vorsicht wagen:

These 1: Die Zeit spielt für die Ukraine. Zwar steht der Verteidiger aufgrund seiner insgesamt geringeren personellen Ressourcen vor einem enormen Problem, sofern die Kämpfe so verlustreich bleiben wie bisher. Aber andererseits steigt mit jedem Tag die Kampfkraft der Truppen dank der - anfangs sehr zögerlichen, aber dennoch kontinuierlichen - westlichen Unterstützung. Neue Fähigkeiten werden Schritt für Schritt bereitgestellt, einsatzentscheidendes Material läuft zu und die logistische Lage verbessert sich ebenso wie der Ausbildungsstand an den Waffen. In Summe sind die Optionen der Hilfe von außen enorm und noch lange nicht ausgeschöpft, sofern der politische Wille des Westens ungebrochen bleibt. Auf der russischen Seite hingegen ist neben den bekannten Problemen der Logistik, der Truppenführung und der überdehnten Front ein Aspekt bedeutsam: Russland ist an seinen Rändern als eine Art Kolonialmacht zu begreifen, mit dem ständigen Risiko eines weiteren Abbröckelns oder gar Zerfalls. Das bindet in dem riesigen Land flächendeckend enorme Kräfte, die gegen die Ukraine fehlen.

These 2: Der Krieg wird militärisch entschieden, sobald die derzeit starren Fronten in Auflösung geraten. Die russischen Truppen haben mit Akribie in dem von ihnen besetzten Raum nur schwer zu durchbrechende Verteidigungsstellungen ausgebaut. Derzeit prägt daher eine Art Stellungskrieg - in grober Analogie zum Ersten Weltkrieg - das militärische Bild. Gelingt es der Ukraine aber, einen operativen Durchbruch mit mindestens brigadestarken Kräften zu erzwingen, ändert sich die Lage durchgreifend. Auf dem Boden sind - sofern der Bedrohung aus der Luft erfolgreich begegnet werden kann - ihre Truppen in einem beweglichen Gefecht überlegen. Dennoch besteht zugleich das operative Risiko, im Übergang zu einem großflächigen Bewegungskrieg selbst ausgekontert zu werden. Das bedeutet: Die Ukraine wird erst dann ihre offensiven Möglichkeiten voll ausspielen, wenn sie die Erfolgsaussichten entsprechend hoch einschätzt. Mit Erreichen eines solchen Kulminationspunktes steht die Zukunft des ganzen Landes auf dem Spiel. Und eine zweite Chance gibt es vermutlich nicht.

Für eine Verhandlungslösung spricht so gut wie nichts

Folgt man dieser groben militärischen Lagebeurteilung, so lassen sich daraus auch Optionen bzw. Hindernisse für diplomatische Anstrengungen ableiten. Für eine "große Verhandlungslösung" spricht derzeit so gut wie nichts. Der Vorschlag eines "Interessenausgleichs" ist eine Fiktion. Keine der beiden Kriegsparteien wird von ihren jeweiligen Zielen abweichen. Die russische Seite will es nicht, die ukrainische kann es nicht. Beide klammern sich an eine vage Chance, dass sich die militärische Lage in absehbarer Zeit zu ihren Gunsten entwickeln könnte: Moskau hofft dabei auf eine Kriegsmüdigkeit des Westens und damit ein Ende der militärischen Hilfe. Die Ukraine setzt auf die oben genannte Gegenoffensive und befürchtet obendrein zurecht, dass ein Waffenstillstand und "Einfrieren des Krieges" letztlich nur der russischen Seite dient, die nach einem dringend nötigen Auffrischen der Kräfte den Krieg jederzeit zu ihren Gunsten fortsetzen könnte. Das Drama wäre damit nicht beendet, sondern bestenfalls nur unterbrochen, ohne dass auch nur ansatzweise eine realistische Lösung auf diplomatischem Weg erkennbar wäre. Das ist zumindest für die Ukraine verständlicherweise nicht hinnehmbar.

Die Alternative zu diesem Ansatz lautet: Erforderliche Voraussetzungen für eine tragfähige und dauerhafte Verhandlungslösung müssen notgedrungen über militärische Fakten geschaffen werden. Das erinnert wieder einmal an Clausewitz und seine These, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Im Kern bedeutet das: Eine ernsthafte Chance für Diplomatie entsteht erst, wenn für beide Seiten die Kosten einer weiteren militärischen Auseinandersetzung deutlich höher zu werden drohen als der absehbare oder zumindest erhoffte Nutzen.

Für Kiew liegt diese Schwelle sehr hoch, sofern es nicht die eigene Existenz infrage stellen möchte. Dem Kreml hingegen könnte eine entsprechende Kalkulation leichter fallen, denn schließlich wäre mit einem Rückzug seiner Truppen der Krieg schlagartig und ohne jeglichen territorialen, völkerrechtlich relevanten Verlust beendet. Und genau hier liegen die durchaus verantwortungsvollen Erwartungen des Westens und überwältigend großer Teile der globalen Gemeinschaft, die alles andere als "sinnlosen Durchhalteparolen" gleichen. (Was das dann innenpolitisch in Russland bedeuten würde, ist natürlich spekulativ. Es liegt weit außerhalb der Einflussnahme von außen, ist aber ebenfalls ein zu beachtender Faktor mit ungewissem Ausgang.)

Putin hat keine Eskalationsdominanz

An dieser Stelle ist es geboten, einen kurzen Blick auf drei weitere Risiken zu werfen, die in der deutschen Debatte immer wieder genannt werden:

Einige Kommentatoren sehen unverändert eine "Eskalationsdominanz" bei Putin. Sie unterstellen, die russische Seite könne beliebig den Einsatz erhöhen, um eigene Ziele zu erreichen, was wiederum Gegenwehr als zwecklos oder viel zu opferreich erscheinen lasse. Sie fordern daher den umgehenden Verzicht auf westliche militärische Unterstützung des ukrainischen Verteidigers. Nun, hier lässt sich entgegnen, dass seit Kriegsbeginn eine solche Eskalationsdominanz auch in Phasen, in denen die russische Seite militärisch in arge Bedrängnis gekommen ist, zumindest auf dem Gefechtsfeld nicht feststellbar war. Das Gegenteil ist der Fall, wie die westlichen Waffenlieferungen und der Verlauf der militärischen Operationen zeigen. Allerdings ist richtig, dass die russische Führung sich nicht scheut, zu kriegsverbrecherischen Mitteln des Terrors aus der Luft gegen ukrainische Städte und Zivilbevölkerung zu greifen.

Ebenso beharrlich wird zugleich das Risiko einer drohenden Kriegsbeteiligung der NATO und eine Art Rutschbahn heraufbeschworen. Auch das ist bisher gegenstandslos. Vielmehr sind erstens alle westlichen Maßnahmen akribisch darauf ausgelegt, sich nicht als "Kriegspartei" etikettieren zu lassen. Und zweitens verkennen solche Thesen völlig die Entscheidungsgrundlagen und -realitäten innerhalb des Bündnisses. Es ist richtig, dass sich der Westen lange Zeit schwer getan hat mit der Lieferung bestimmter Waffen - und das immer noch tut. Aber genau das zeigt die Besonnenheit einerseits und den offenen Handlungsspielraum andererseits.

Schließlich steht da noch das Schreckgespenst "Nuklearkrieg" im Raum. Freilich kann das niemand auszuschließen, und es lässt sich auch in keiner Weise wegdiskutieren. Aber zugleich ist ein solches Szenario nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern gewinnt paradoxerweise umso mehr an Gewicht, je bereitwilliger entsprechenden Drohungen nachgegeben wird. Denn wo sollte das in einer Welt enden, in der Nuklearwaffen leider allzu verbreitet sind? Ehrenwerter Pazifismus hilft da nicht weiter. Von daher sind die US-Signale in dieser Frage wirkungsvoll: Falls Putin sich zum Einsatz von Nuklearwaffen in diesem Krieg entschließt, wird die Antwort (welche, bleibt bewusst offen) unerträglich, gerade auch für Russland, sein.

Im Ergebnis ist anzunehmen, dass die blutigen Kampfhandlungen auf ukrainischem Boden und auch der Terror aus der Luft gegen die ukrainische Bevölkerung noch auf unbestimmte Zeit weitergehen. Das ist eine sehr schlechte Nachricht. Eine bessere gibt es derzeit aber leider nicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin "Mit Sicherheit kontrovers" der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen