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Kiesewetter zur Lage in Ukraine "Der Kanzler leistet einem langen Krieg Vorschub"

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Kiesewetter setzt sich derzeit besonders für eine Lieferung des Marschflugkörpers Taurus ein.

Kiesewetter setzt sich derzeit besonders für eine Lieferung des Marschflugkörpers Taurus ein.

(Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE)

Die Offensive der Ukraine verläuft äußerst stockend, ein baldiger Frieden scheint nicht in Sicht. Die Enttäuschung ist greifbar. CDU-Außenpolitiker Kiesewetter sagt im Interview, was bislang falsch gelaufen ist und warum Deutschland bei den Waffenlieferungen nicht nachlassen darf - im Gegenteil. Schwere Vorwürfe erhebt er gegen Kanzler Scholz.

Die meisten Menschen in Deutschland hoffen darauf, dass die Ukraine die Russen zurückdrängt. Aber es scheint weder vor noch zurückzugehen. Wie sehen Sie die ukrainische Offensive bislang? Sind Sie enttäuscht?

Es war absehbar, dass die Gegenoffensive schleppend und zögerlich verläuft, auch wenn sie in bestimmten Teilen erfolgreich ist. Die ukrainischen Soldaten kämpfen in einem Umfeld, in das der Bundestag die Bundeswehr nie schicken würde: keine Luftüberlegenheit, extremer Munitionsmangel, schwere Ersatzteilversorgung, kaum Möglichkeiten, die Soldaten auszutauschen und in die Erholung zu schicken. Es ist ein extremer Abnutzungskrieg, der aber durch die zu zögerliche Unterstützung verursacht wurde. Auch oder vielleicht sogar insbesondere aus Deutschland.

Sie kritisieren die Waffenlieferungen seit Langem als zu zögerlich. Aber es wurde sehr viel geliefert, zum Beispiel die Leopard-Panzer. Doch davon wurden gleich zu Beginn der Offensive mehrere zerstört.

Ich sehe das anders. Es sind viel zu wenige Leopard-Panzer geliefert worden. Aus Deutschland waren es 16 Stück.

Aber gemeinsam mit anderen Ländern mehr als 50.

Ja, aber Deutschland hat es versäumt, der deutschen Rüstungsindustrie frühzeitig den Auftrag zu geben, Hunderte Kampfpanzer zu ertüchtigen. Der zweite große Fehler war es, dass man aus der ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen Sommer nicht gelernt hat. Sie endete, weil es an Munition, Kampf- und Schützenpanzern fehlte. Über den Winter hätte Deutschland massenhaft Munition produzieren müssen. Die Briten haben die Verachtfachung ihrer Munitionsproduktion angeregt. Die Deutschen haben gar nichts gemacht. So konnten sich die Russen tief eingraben, sodass Angriffe immer nur abschnittsweise und unter großen Verlusten stattfinden können.

Erst kommen die Minenfelder, dann Panzergräben, dann Panzersperren, dann Stacheldraht und dann erst die Schützengräben.

Hätte die Ukraine frühzeitig westliche Kampfjets bekommen, hätte man die Verteidigungsvorbereitungen längst zerstören können. Aber man hat der Ukraine diese Waffen nicht gegeben, auch Deutschland hat sich der Kampfjetkoalition nicht angeschlossen. Ferner hat man der Ukraine keine weitreichenden Raketen gegeben, die dort abgeschossen werden könnten, wo sie noch Luftüberlegenheit haben. Je näher die Ukrainer an die Front heranrücken, umso stärker ist die russische Luftwaffe mit Kampfhubschraubern und Flugzeugen. Sie ist den Ukrainern oft um ein Vielfaches überlegen. Unter diesen widrigen Umständen kämpfen die Ukrainer dort mit hohem Blutzoll und haben dennoch in den ersten fünf Wochen so viel Gelände befreit, wie Russland in sechs Monaten besetzt hat.

Man schickt den Ukrainern also zu wenig Waffen, erwartet aber immense Erfolge und ist anschließend enttäuscht. Ärgert Sie das?

Das ist ja gerade das Schwierige an der Situation. Es wird zwar gesagt: Wir unterstützen die Ukraine, solange es nötig ist. Auf der anderen Seite wird aber nicht gesagt: Wir müssen so schnell und so viel wie möglich helfen. Es ist wie bei einem Kranken, der schleichend in einen Dämmerzustand gerät. Den man aber noch am Leben erhält, solange es nützlich ist. Ich habe den Eindruck, dass man eher darauf schaut, dass Russland sich abnutzt, aber keine Niederlage erleidet. Dafür nimmt man eine Niederlage der Ukraine in Kauf. So deute ich das Verhalten im Kanzleramt, nicht aber bei allen Koalitionspartnern. Im Kanzleramt stimmen zwei Grundannahmen nicht.

Welche?

Erstens gibt es kaum Vertrauen in die Ukraine und zweitens wird nicht anerkannt, dass die Ukraine verhindert, dass der Krieg sich ausweitet und unsere Freiheit damit verteidigt. Putins Ziel ist ja nicht nur die Einverleibung der Ukraine und Belarus, was de facto schon erfolgt ist, sondern auch der baltischen Staaten und der Republik Moldau.

Aber dazu ist Russland doch gar nicht mehr in der Lage. Es hat seine Kriegsziele reduziert, nun will man nur noch die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete erobern.

Vertrauen Sie Russland? Ich sehe, dass die Bundesregierung der ukrainischen Regierung nicht vertraut - offensichtlich aber Russland. Russland hat sehr klar als Kriegsziel erklärt, dass die Ukraine aufzuhören hat, als Staat zu existieren. Danach soll es dann weiter gegen Moldau und das Baltikum gehen. Wenn sie einen vorübergehenden Waffenstillstand erreichen, werden sich die Russen erholen und dann wieder angreifen. Russland muss verlieren lernen und seine kolonialen und hegemonialen Ansprüche aufgeben.

Die Ukraine hat also zu wenige Waffen …

… und das absichtlich! Die Ukrainer könnten deutlich mehr Waffen haben, wenn Deutschland der Rüstungsindustrie den Auftrag gäbe. Die ist bislang weiterhin nicht voll ausgelastet und könnte mehr herstellen. Dafür brauchen sie aber die Aufträge. Deutschland könnte meines Wissens pro Jahr zwischen 250.000 und 300.000 Artilleriegranaten produzieren. Bislang sind es etwa 11.000.

Wenn die Ukraine nun aber zu wenige Waffen hat, wäre es da nicht sinnvoller, mit der Großoffensive noch zu warten?

Wenn sich die Ukraine nur verteidigt, würde Russland die Angriffe trotzdem fortsetzen. Das ukrainische Militär denkt auch an die eigene Bevölkerung. Laut ukrainischen Angaben sind 19.000 ukrainische Kinder entführt worden, nach russischen über 700.000. Das Roten Kreuz spricht von 200.000. Die werden in Russland mit neuem Namen und Geburtsdatum zur Adoption freigegeben. Die Ukrainer wollen nicht unter russischem Joch leben. Wir sollten akzeptieren, dass sie ihr Land vollständig in den Grenzen von 1991 befreien wollen und sie dabei unterstützen. Dazu gehört, dass sie alles erhalten, was nötig ist.

Entscheidend sind dabei doch ohnehin die Amerikaner.

Die Amerikaner sagen, sie müssen Mittel bereithalten für die mögliche Eskalation Chinas gegen Taiwan und aufgrund einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps. Jetzt müssten Deutsche, Briten, Franzosen und Polen auf die Amerikaner zugehen und zeigen, dass sie ein großes Interesse an fairer Lastenteilung haben. Bisher leisten die Amerikaner zwei Drittel der militärischen und 40 Prozent der humanitären Hilfe. Wir könnten sagen, wir übernehmen die Hälfte der militärischen Unterstützung, wir verdoppeln unser Engagement, wir gehen auf Augenhöhe.

Könnte Deutschland das überhaupt?

Natürlich könnten wir das. Das ist eine Frage des Willens. Dieser politische Wille fehlt nicht im Wirtschafts- oder Außenministerium, sondern im Verteidigungsministerium und im Kanzleramt.

Sollte Trump bei der Wahl im kommenden Jahr antreten und gewinnen, könnte sich einiges ändern. Wie stark schätzen sie die Ukraine-kritische Fraktion in den USA ein?

Das ist ein sehr geringer Anteil bei beiden Parteien, etwas stärker bei den Republikanern. Im Kongress gibt es parteiübergreifend ein großes Interesse, dass die USA und Europa gemeinsam Russland in die Schranken weisen. Aber es gibt dennoch die Erwartungshaltung, dass die Europäer mehr Verantwortung übernehmen, um die Amerikaner zu entlasten. Damit sie sich mehr um den Indopazifik kümmern können.

Sie haben die Debatte um die Taurus-Marschflugkörper angestoßen. Das Verteidigungsministerium prüft nun eine Lieferung, will aber die Reichweite einschränken.

Die Briten und Franzosen haben sehr pragmatisch Waffen mit ähnlicher Reichweite geschickt, die Stormshadow und die Scalp, mit Software- und Hardwareanpassungen. Es macht aber wenig Sinn, die Reichweiten einzuschränken, weil die Marschflugkörper ja aus dem sicheren Hinterland abgefeuert werden müssen. Der Knackpunkt ist, dass die Ukrainer kaum noch funktionsfähige Kampfflugzeuge haben. Daher war die Kampfjetkoalition so wichtig, an der Deutschland sich leider nicht beteiligt.

Aber da geht es um die F-16, die Deutschland gar nicht hat.

Aber Deutschland hätte Eurofighter. 2002 wurden in Laage Mig-29-Piloten am Eurofighter ausgebildet. Das hat gerade einmal einen Monat gedauert.

Da sagt die Regierung, die seien in so schlechtem Zustand, dass das nichts bringt.

Das ist typisch dafür, wie die Deutschen mit Reparatur und Instandhaltung umgehen. 2020 sind 84 Eurofighter von Deutschen und Briten ausgemustert worden. Deutschland könnte kurzfristig die 1. Tranche Eurofighter, das sind ca. 30 bis 40 Stück, die mit Beschluss im Jahr 2020 ohnehin alsbald ausgemustert werden, an die Ukraine rasch abgeben oder wieder ertüchtigen. Erst F-16 und dann Eurofighter. Viel wichtiger ist aber, dass jetzt an den Taurus-Marschflugkörpern sehr rasch die Soft- und Hardwareanpassungen vorgenommen werden, damit ukrainische Flugzeuge sie tragen können. Zweitens ist es wichtig, der Ukraine zu vertrauen. Stattdessen heißt es, man wisse ja nicht, ob die Ukrainer russisches Terrain angreifen werden. Völkerrechtlich ist das aber erlaubt, solange es verhältnismäßig ist und keine zivilen Ziele angegriffen werden. Es ist strategisch sinnvoll und politisch richtig, Einrichtungen in Russland anzugreifen, die zum Krieg beitragen. Bisher hat sich die Ukraine immer an Vorgaben gehalten.

In Deutschland kommt die AfD auf rund 20 Prozent in Umfragen, im Trendbarometer von ntv sagen mehr als 60 Prozent der Befragten, dass sie gegen Taurus-Lieferungen sind. Wie gehen Sie mit dieser Erschöpfung um?

Die Bundesregierung kalkuliert mit dieser Erschöpfung und Putin auch. Leidtragende ist die ukrainische Bevölkerung. Wenn sie sieht, dass es keine Perspektive mehr in dem Land gibt, werden die Menschen millionenfach fliehen. Dann wird die AfD erst recht ihre Nahrung finden. Ich werfe der Bundesregierung vor, dass sie unser Handeln überhaupt nicht erklärt. Was ist unser Ziel? Ist das genannt worden?

Russland soll nicht gewinnen, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz.

Und der Verteidigungsminister sagt, dass Russland verlieren und die Ukraine gewinnen soll. Scholz' Aussage ist aber kein Ziel, das Deutschlands Sicherheit dient. Der Bundeskanzler leistet damit einem langen Krieg Vorschub. Er setzt auf die Abnutzung. So nimmt er millionenfache Opfer in Kauf. Wir müssen jetzt die Ukraine in die Lage versetzen, ihr Territorium vollständig zu befreien.

Viele schätzen aber das, was als "besonnen" wahrgenommen wird.

Ich war seit März 2022 in 98 Wahlkreisen bei Bürgerdiskussionen. Da spüre ich nicht, dass der Bundeskanzler als besonnen wahrgenommen wird. Ich nehme größte Unzufriedenheit wahr. Die Menschen sagen mir: Er erklärt zu wenig. Wir verstehen nicht, was er will. Damit verspielt er Vertrauen und setzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufs Spiel. Das stärkt leider auch die politischen Ränder.

Die Lieferung welcher Waffengattung werden Sie als nächstes fordern?

Ich fordere, dass wir begreifen, dass die Ukraine gewinnen und ihre Grenzen von 1991 wiederherstellen muss. Alles was dafür völkerrechtlich legal und legitim ist, muss geliefert werden. Dazu gehört auch, dass der Bundeskanzler erklärt, was auf dem Spiel steht. Wir müssen als Westen glaubwürdig bleiben. Wir müssen dafür sorgen, dass es keine Nachahmer gibt, sei es der Iran gegenüber dem Irak oder China gegenüber Taiwan. Die Stärke des Rechts muss stärker sein als das Recht des Stärkeren.

Mit Roderich Kiesewetter sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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