Politik

Reisners Blick auf die Front"Risiko, dass die Ukraine einen Kipppunkt erreicht"

24.11.2025, 16:58 Uhr
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Düstere Aussichten: Präsident Wolodymyr Selenskyj muss im Ringen um einen Waffenstillstand zwischen vielen schlechten Optionen abwägen. (Archivbild) (Foto: picture alliance / SvenSimon-ThePresidentialOfficeU)

Was bleibt vom 28-Punkte-Plan, mit dem die USA den Krieg in der Ukraine beenden wollten? Im Gespräch mit ntv.de erklärt Oberst Reisner, warum Kiew auch eigentlich unannehmbare Forderungen abwägen muss - und warum die Gesamtlage sich zugunsten Moskaus entwickelt.

ntv.de: Die US-Regierung übt Druck auf Kiew aus, einem Deal mit Russland zuzustimmen. Was kann Washington an militärischer Unterstützung entziehen, das die Ukrainer nicht anderweitig ersetzen können?

Markus Reisner: Präsident Donald Trump hat es ja selbst gesagt: Wenn sich die Ukrainer jetzt nicht fügen, werden wichtige US-Aufklärungsdaten nicht mehr wie bisher übermittelt. Auch die Finanzierung und Lieferung notwendiger Waffensysteme würde eingestellt. Solch einen Verlust könnten die Europäer auch im inzwischen vierten Kriegsjahr nicht ausgleichen. Das gilt insbesondere für den Bereich der Aufklärungsdaten.

Europa könnte nichts davon abfedern?

Die europäische Rüstungsindustrie wächst zwar seit der russischen Vollinvasion der Ukraine, aber nicht in der Form, wie man es benötigen würde. Nehmen Sie das Beispiel der Fliegerabwehr: Präsident Selenskyj hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sein Land mehr Verteidigungssysteme braucht gegen die wiederholten strategischen Luftkampagnen der Russen. Doch woher sollen diese kommen? Die USA lassen sich ihre Fliegerabwehrbatterien vom Typ Patriot bezahlen, von der Ukraine oder von den Europäern. Washington hat damit ein weiteres Druckmittel in der Hand.

Markus-Reisner
Oberst Markus Reisner bildet an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt Offiziere des österreichischen Bundesheeres aus und ordnet jeden Montag bei ntv.de das Kriegsgeschehen in der Ukraine ein.

Das gleiche gilt für Aufklärungsdaten?

Die USA zählen mit ihren Möglichkeiten zu den stärksten Streitkräften der Welt. Zu diesen Möglichkeiten zählt, dass Washington jederzeit über ein allumfassendes globales Lagebild verfügt. Das können die Europäer nur punktuell und nicht in einem vergleichbaren Umfang. Teilweise können europäische Systeme einen Ausfall der USA kompensieren, aber nicht in der Ausprägung, wie es die Ukraine etwa für Angriffe auf die kritische Infrastruktur tief in Russland hinein bräuchte.

Washington droht nicht nur, sondern lockt auch mit einer Sicherheitsgarantie für die Ukraine auf dem Niveau der Nato-Beistandspflicht. Was lässt sich darüber sagen?

Schon das Budapester Memorandum von 1994 hat im Gegenzug für den Verzicht auf Atomwaffen der Ukraine zugesagt, dass die USA und Großbritannien dem Land gegen einen russischen Angriff beistehen würden. Das ist nicht passiert. Im Ursprungsentwurf des 28-Punkte-Plans heißt es nun, die USA wollten sich für ihr Beistandsversprechen bezahlen lassen.

Der US-Präsident fordert Schutzgeld von der akut bedrohten Ukraine und damit auch indirekt von den Europäern, vor deren Haustür dieser Krieg tobt?

Der Wechsel von der Regierung Biden zur zweiten Amtszeit von Trump markiert den Beginn einer anderen Zeitrechnung. Allerdings waren die USA auch schon unter Biden nicht bereit, sich mit vollem Einsatz an der Seite der Ukraine zu engagieren. Trump muss man zudem zugestehen, dass er in dieser Frage immer ehrlich war: Er will aus diesem Krieg raus. Es ist aus seiner Sicht völlig sinnlos, dass da Hunderttausende sterben. Und deshalb übt er Druck auf beide Kriegsparteien aus, auch wenn das der Ukraine und ihren europäischen Unterstützern nicht gefällt.

Der 28-Punkte-Plan gilt in seiner ursprünglichen Fassung als besonders Russland-freundlich.

Es ist aber durchaus bemerkenswert, dass Russland diesem Plan zufolge die Souveränität der verbleibenden Ukraine nicht länger in Frage stellt. Das ist schonmal positiv.

Dafür müsste Kiew sehr viel Territorium abtreten.

An Russland abgegeben würden die russisch besetzten Teile der Regionen Saporischschja und Cherson. Die Krim und die Oblast Luhansk sind ohnehin schon vollständig unter russischer Kontrolle. Die Ukraine soll im Gegenzug die vergleichsweise kleinen Teile von Charkiw und Sumy zurückbekommen, die Russland besetzt hält. Die Idee des Plans ist zudem, jene 30 bis 40 Prozent der Region Donezk, die Russland noch nicht erobert hat, ebenfalls Moskau zuzusprechen. Die Ukrainer sollen ihre Streitkräfte von dort abziehen, die Russen dürfen aber mit ihrer Armee nicht in diese geräumte Zone vorstoßen. Ob solch eine Pufferzone realistisch ist, hängt von weiteren Details ab.

Und zwar?

Das betrifft etwa die Frage der Überwachung des Friedensabkommens. Der von Washington vorgelegte Plan schließt eine Stationierung von europäischen Truppen und Nato-Streitkräften aus. Unter Umständen könnten aber Truppen des globalen Südens stationiert werden, etwa aus Indien oder China.

Der Plan sieht auch eine Beschränkung der ukrainischen Truppenstärke auf 600.000 Mann vor. Die Europäer fordern laut Berichten eine Anhebung auf 800.000. Worum geht es da?

Im Moment hat die Ukraine circa 800.000 Soldaten im Einsatz. Davon befinden sich rund 400.000 an der Front und weitere 400.000 in der Tiefe, etwa zur Sicherung nicht umkämpfter Grenzabschnitte zu Russland und Belarus. Die reine Zahl greift aber zu kurz. Entscheidend sind die Fähigkeiten der zur Verfügung stehenden Soldaten, also die Qualität ihrer Ausstattung und die Art der Waffensysteme, auf die eine Armee zurückgreifen kann. Die erste Einschränkung: Der 28-Punkte-Plan erlaubt der Ukraine keinen Besitz weitreichender Waffensysteme, die Russland als Bedrohung empfindet.

Ein Waffenstillstand könnte also auch der Ukraine nutzen, sich militärisch wieder robuster aufzustellen und nicht nur Russland zum Vorteil gereichen?

Das gehört zu den Fragen, die die Ukraine mit Blick auf ihren momentanen Zustand abwägen muss. Russland rückt an allen Frontabschnitten langsam, aber stetig vor. Den Ukrainern mangelt es an der Front an Soldaten. Die strategischen Luftangriffe der Russen verursachen eine Energiekrise, die sich im Winter verstärken wird. Hinzukommt eine Korruptionsaffäre um den Präsidenten, die die Situation auch nicht leichter macht. Und jetzt droht das Land mit den USA auch noch seinen wichtigsten Verbündeten zu verlieren, wie es Präsident Selenskyj selbst gesagt hat.

Es gibt also Argumente dafür, auch eigentlich unannehmbare Punkte des Plans zu akzeptieren?

Der Ukraine blickt einem extrem harten Winter entgegen. Es besteht das Risiko, dass die Ukraine einen Kipppunkt erreicht, an dem der gesamte Staat zu kollabieren beginnt. Man wird sich in Kiew überlegen müssen, ob man absehbar in eine aussichtsreichere Verhandlungsposition kommen kann als es derzeit der Fall ist.

Sind die wenigen aber substanziellen Zugeständnisse der Russen, die der ursprüngliche 28-Punkte-Plan enthält, ein Hinweis darauf, dass Russland aus einem Gefühl der Stärke in ernsthafte Verhandlungen eintreten könnte?

Das ist richtig. Der Plan basiert auch offensichtlich auf Beiträgen aus Moskau, worauf auch manche aus dem Russischen übersetzte Formulierung hinweist. Außerdem steht dort, alle Vereinbarungen seien nichtig, wenn die Ukraine auch nur eine Rakete in Richtung Moskau oder Sankt Petersburg abfeuert. Das ermöglicht Russland, den Krieg jederzeit mittels eines inszenierten Angriffs wieder aufzunehmen. Und während Europa diese Vorschläge diskutiert, die Ukraine eine bessere Handlungsposition herauszuschlagen versucht und die USA immer ungeduldiger werden, führt Russland diesen Krieg weiter.

Was passiert im Schatten der Verhandlungen an der Front?

Die russische Sommeroffensive geht nahtlos in eine Winteroffensive über: Parallel zur letzten Phase der Kämpfe um die Stadt Pokrowsk hat Russland weitere Offensivanstrengungen gestartet, etwa südlich von Pokrowsk. Dort stoßen die Russen auf einer Breite von 30 bis 35 Kilometern in Richtung Saporischschja vor. Umkämpft ist dabei Huljajpole, ein wichtiger regionaler Logistikknotenpunkt der Ukrainer. Russische Offensivanstrengungen sind aber auch bei Kupjansk und Siwersk zu beobachten. Sollte Siwersk fallen, könnten die Russen rasch Richtung Slawjansk und Kramatorsk weitermarschieren. Da habe ich jetzt nur das Kampfgeschehen im sogenannten Mittelabschnitt der Front aufgezählt, aber auch im Nord- und Südabschnitt beobachten wir russische Offensivanstrengungen. Das sind Frontbereiche, die bisher vergleichsweise ruhig waren.

Hinzukommen die Luftangriffe.

Richtig. Wir sehen eine Kombination von Luftangriffen auf der strategischen Ebene, um die Ukraine in die Knie zu zwingen, etwa durch eine zerstörte Energieversorgung. Wir sehen aber auch Luftangriffe auf der operativen Ebene, um die Front aufzuweichen und dann vormarschieren zu können. Und wir sehen auf der taktischen Ebene den massiven Einsatz von russischen Drohneneinheiten, die den Ukrainern große Probleme bereiten. Allein in der vergangenen Woche hat Russland mehr als 1050 Drohnen, über 1000 Gleitbomben sowie mehr als 60 Raketen und Marschflugkörper gegen die Ukraine eingesetzt. Man nimmt an, dass Russland bis Ende des Jahres circa 120.000 Gleitbomben produziert und eingesetzt hat. Das ist eine unglaubliche Zahl. Sie zeigt, dass dieser Krieg dem Prinzip der Abnutzung folgt.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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