Wie umgehen mit Gaza-Eskalation? Saudi-Arabien steht vor heiklem Balance-Akt
25.10.2023, 16:04 Uhr Artikel anhören
Kronprinz bin Salman war auf ein pragmatisches Verhältnis zu Israel aus, kann aber über die Eskalation der Gewalt in Nahost nicht hinweggehen.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Der Angriff der Hamas und die Gewalteskalation in Gaza bedeuten eine Zäsur für Saudi-Arabiens jüngste Annäherungspolitik in der Region - auch für die Annäherung an Israel. Je schlimmer der Konflikt wird, desto mehr droht er zudem, zum Spaltpilz zwischen Deutschland und dem Golf zu werden.
"Die Nahostregion ist heute ruhiger als in den zwei Jahrzehnten zuvor", frohlockte wenige Tage vor dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel US-Sicherheitsberater Jake Sullivan. Diese euphorische Bewertung hatte auch mit der Annäherungspolitik der Golf-Staaten - insbesondere Saudi-Arabiens - zu tun, die seit den Al-Ula-Verträgen und Abraham-Abkommen auf Deeskalation und Konfliktmanagement in der Region gesetzt hatten. Der Nahostkonflikt war dabei oft nur eine Randnotiz, nun bringt die jüngste Eskalation der Gewalt ihn zurück in den Mittelpunkt regionaler Herausforderungen und droht die fragilen Errungenschaften der letzten Jahre zunichtezumachen.
Seit 2021 hatte Saudi-Arabien gemeinsam mit anderen Golf-Staaten eine pragmatische Deeskalationspolitik im Nahen Osten forciert. Vom Waffenstillstand mit der Huthi-Miliz im jemenitischen Bürgerkrieg über die Rückkehr von Syrien in die Arabische Liga bis hin zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Iran schien ein "neuer Naher Osten" möglich. Interessenausgleich, Stabilisierung und wirtschaftliche Entwicklung waren das neue Leitmotiv zwischen Golf und Mittelmeer.
Der große Quantensprung dieser Regionalpolitik sollte Saudi-Arabiens Normalisierung mit Israel werden. Inmitten intensiver Verhandlungen machten die Hamas-Angriffe dem Königreich aber einen Strich durch die Rechnung. Saudi-Arabien ist durch die Gewalteskalation zunächst die Initiative verloren gegangen. In den nächsten Monaten werden Politiker in Riad vor allem reagieren und darauf hinwirken müssen, dass der Konflikt sich nicht zu einem regionalen Flächenbrand ausweitet.
Regionale Brandabwehr als Priorität Saudi-Arabiens
Damit die jüngsten Errungenschaften der saudischen Realpolitik - insbesondere die pragmatische Verständigung mit Iran - nicht in Rauch aufgehen, ist die erste Priorität des saudischen Königshauses, ein Ausgreifen des Konflikts auf die Golf-Region zu verhindern. Alle Augen richten sich dabei auf Teheran.
Irans Stellvertreter haben mehrfach mit Vergeltung gegen Israel oder amerikanische Ziele gedroht. Zwar gilt die Hauptsorge der libanesischen Hisbollah, doch auch Iran-nahe Akteure am Golf könnten Ziele in der Region angreifen, wie die von einem US-Zerstörer abgefangenen Raketen und Drohnen der jemenitischen Huthis zeigen. Auch die zahlreichen US-Militärbasen in Saudi-Arabien und anderen Golf-Staaten sind dabei potenzielle Ziele. Riad befürchtet seit jeher bei einem Konflikt zwischen Iran und Israel in die Schusslinie zu geraten.
Saudi-Arabien wird daher alles tun, um keine regionale Instabilität zu importieren. Dazu gehört zuallererst, die seit Kurzem verbesserten Beziehungen zu Iran zu managen, um selbst nicht zwischen die Fronten zu kommen. Dass Riad zusammen mit Teheran beim Gipfel der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) in Dschidda jüngst Israel verurteilt und zu Sanktionen aufgerufen hatte, ist ein Beispiel für diese Absicherungsstrategie. Wo es im eigenen Interesse ist, macht man gemeinsame Sache und versucht das bilaterale Verhältnis zu stabilisieren, damit der Funke aus Gaza nicht an den Golf überspringt.
Militäroffensive entzweit Riad und Tel Aviv
Daneben bringt die israelische Offensive im Gaza-Streifen Riad in einen moralischen Zwiespalt. Einerseits möchte das Königreich den jüngsten Annäherungsprozess an Israel fortsetzen, andererseits steht es traditionell den Palästinensern sehr nahe und kann als muslimische Führungsmacht der humanitären Katastrophe in den palästinensischen Gebieten nicht schweigend zusehen. Saudi-Arabiens ursprüngliche Reaktion nach den Terror-Angriffen der Hamas war bei genauem Hinsehen zurückhaltender als die mancher Nachbarn: Im Gegensatz zu anderen Golf-Staaten machte Riad Israel nicht direkt für die Gewalteskalation verantwortlich - auch wenn vehement darauf hingewiesen wurde, dass Saudi-Arabien immer gewarnt hatte, die Lage sei angesichts israelischer Provokationen explosiv.
Spätestens nach dem Beschuss des Al-Ahli-Krankenhauses hat sich die Rhetorik aus Riad aber gewandelt. Trotz ungeklärter Umstände verortet Saudi-Arabien die Schuld für die zahlreichen zivilen Opfer bei Israel. Das zeigt: Je schlimmer die Kampfhandlungen werden, desto mehr wandelt sich die anfänglich differenzierte Position zu einer pauschalen Verurteilung. Der Ton aus Riad dürfte schärfer werden, vor allem bei einer langwierigen Bodenoffensive im Gaza-Streifen.
Dabei ist das Meinungsbild im Königreich durchaus komplex. Saudi-Arabien hat wenig Sympathien für die Hamas. Doch die Unterstützung für palästinensische Selbstbestimmung ist ein Grundkonsens in der Bevölkerung und gerade die 'alte Garde', allen voran der derzeitige König, ist den Palästinensern in Solidarität verpflichtet. Die jüngere Generation um seinen Sohn und de-facto Machthaber, Kronprinz Mohammed bin Salman, hingegen sieht das pragmatischer. So spielte die Lösung des Nahostkonflikts bei den vom Kronprinzen forcierten Verhandlungen über eine Normalisierung mit Israel anfänglich nur eine untergeordnete Rolle - obwohl die von Saudi-Arabien 2002 entworfene Arabische Friedensinitiative diese Lösung seit eh und je zur Vorbedingung für eine Normalisierung macht.
Diese Nuancen drohen nun verlorenzugehen. Trotz amerikanischer Bemühungen, die Verhandlungen über eine israelisch-saudische Normalisierung am Laufen zu halten, hat Riad die Gespräche vorerst ausgesetzt. Wenn sich der Nebel des Krieges gelichtet hat, wird Saudi-Arabien seine Verhandlungen wohl wieder aufnehmen. Vorerst hat sich das politische Gelegenheitsfenster für eine Normalisierung aber geschlossen.
Divergenzen im deutsch-saudischen Dialog
Inmitten dieser Entwicklungen driften auch die Perspektiven Deutschlands und Saudi-Arabiens auf den Konflikt in Israel auseinander. Während die Empörung in Saudi-Arabien über die Gegenoffensive Israels zunimmt, überwiegt in Deutschland angesichts der brutalen Terror-Angriffe die Unterstützung für Israel. Der Nahostkonflikt ist schon immer ein Stolperstein für den Dialog zwischen Deutschland und den Golf-Staaten gewesen.
Zwar hat Riad Verständnis für die deutsche historische Verantwortung für Israels Sicherheit. Gleichzeitig ist Deutschland als Teil des Westens jedoch stets dem Vorwurf der Doppelmoral ausgesetzt. Von saudischer Seite wird unterstellt, Deutschland mahne die Einhaltung des Völkerrechts in anderen Konflikten an, toleriere aber Besatzung und Rechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten. Dies schmälert auch das Gehör, das deutsche Vertreter am Golf mit ihrem Plädoyer für eine Unterstützung der Ukraine beim Kampf gegen die russische Besatzung bekommen.
Damit drohen die Standpunkte Berlins und Riads künftig noch mehr zu divergieren, wodurch auch die Basis für den Dialog mit den Golf-Staaten schrumpft. Das ist fatal, weil der Westen den Golf, gerade beim Nahostkonflikt, als Mittler benötigen wird. Saudi-Arabien und seine Nachbarn sind längst das neue Gravitationszentrum der Region. Von Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln über humanitäre Hilfen bis hin zur Konfliktlösung im Gaza-Streifen werden sie künftig eine gewichtige Rolle spielen.
Philipp Dienstbier ist Leiter des Regionalprogramms Golf-Staaten der Konrad-Adenauer-Stiftung, das seinen Sitz in Jordaniens Hauptstadt Amman hat.
Quelle: ntv.de