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Im Terror versunken? Seit dem Abzug westlicher Soldaten aus Mali sterben dort weniger Zivilisten

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Ein Soldat und eine Soldatin der Bundeswehr marschieren auf einer Patrouille durch den Norden Malis.

Ein Soldat und eine Soldatin der Bundeswehr marschieren auf einer Patrouille durch den Norden Malis.

(Foto: Issio Ehrich)

Terroristen in Mali gelingt es noch immer, spektakuläre Anschläge zu verüben. Spektakulärer denn je vielleicht sogar. Dass die Region nach dem Rückzug des Westens endgültig in Gewalt versinkt, stimmt womöglich trotzdem nicht.

Sie hatten es oft vorhergesagt. Nun, am 17. September 2024, schienen sich die Warnungen vieler Beobachterinnen und Beobachter Malis zu bestätigen. Früh am Morgen hallte das Krachen von Explosionen durch die Straßen Bamakos, die Hauptstadt des westafrikanischen Landes. Rauchschwaden stiegen am Himmel auf. Stundenlang war das Rattern von Sturmgewehren zu hören.

Terroristen, die Al-Kaida die Treue geschworen hatten, schlugen nun also auch hier zu, in der Hauptstadt, im Zentrum der Macht. Sie griffen ein Trainingscenter der malischen Gendarmerie und den Flughafen am Rande der Metropole an. Mindestens 77 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt. Es war das erste Mal, dass es Terroristen gelang, derart wertvolle militärische Ziele in Bamako zu treffen.

Ein Schreckensszenario, so schien es, wurde Realität: Dass Mali nach dem Abzug westlicher Soldaten endgültig im Terror versinken würde. Ein beliebtes wie naheliegendes Narrativ. Einst gingen in Mali schließlich rund 5000 französische Soldaten auf Terroristenjagd. Die deutsche Bundeswehr beteiligte sich an einer UN-Stabilisierungsmission mit insgesamt mehr als 10.000 Blauhelmen, um für Frieden zu sorgen und die Bevölkerung zu schützen. Ohne all diese Kräfte, dieser Gedanke drängte sich auf, musste es rapide bergab gehen. Doch die Realität sieht womöglich anders aus.

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Der doppelte Anschlag in Bamako im Dezember war nur einer von mehreren symbolträchtigen Erfolgen der bewaffneten Gruppen in Mali. Beim Blick auf Statistiken allerdings, auf die Zahl getöteter Zivilisten in dem Land, kann von einer immer schlechteren Sicherheitslage kaum die Rede sein.

Im Jahr 2022, als alle noch da waren, die Bundeswehr und die Blauhelmmission, die französischen Terroristenjäger samt ihrer kampfgestählten Spezialeinheiten, starben in Mali 2232 Zivilistinnen und Zivilisten. Im Jahr 2023, als die Franzosen das Land bereits verlassen hatten, und die Blauhelme ihren Rückzug antraten, sank die Zahl auf 1965. Ein Jahr später, 2024, als längst kein westlicher Soldat mehr im Lande war, lag die Zahl bei 1776. Der dritte Rückgang der Opferzahlen in Folge. Das ergibt eine Auswertung der Daten des Armed Conflict Location & Event Data Projektes (Acled), der wichtigsten Quelle für Opferstatistiken in der sogenannten Sahelzone, dem halbtrockenen Übergang der Sahara-Wüste in die weiter südlich gelegenen Savannen, wo auch Mali liegt.

Haben sich die Expertinnen und Experten mit ihren Prognosen also geirrt? Wird mit dem Rückzug des sogenannten Westens aus Mali womöglich doch nicht alles immer schlimmer?

Der Zusammenbruch hat nicht stattgefunden

"Ja", antwortet Ulf Laessing, Leiter des Regionalprogrammes Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung, auf die Frage, ob auch er mit einer schlechteren Sicherheitslage nach dem westlichen Rückzug gerechnet hatte. "Aber der Zusammenbruch hat nicht stattgefunden." Laessing fügt hinzu: "Die Sicherheitslage ist weiterhin schlecht, aber mit einigen Lichtblicken." Er beschreibt, dass eine Pattsituation eingetreten sei. "Weder kann die Regierung das ganze Land kontrollieren, noch können die Islamisten Städte einnehmen." Laessing warnt aber auch zur Vorsicht im Umgang mit den Acled-Zahlen. In einigen Landesteilen hätten die Islamisten ihre Herrschaft längst derart zementiert, dass es keinen Widerstand mehr gebe und die Opferzahlen auch deshalb nicht mehr stiegen, sagt er. Anderenorts könnten Bauern auf ihre Felder zurückkehren. Auch die Straße von Mali nach Burkina Faso sei heute sicherer. "Vor zwei Jahren war die Straße noch gesperrt."

Ein diffuses Bild. Offensichtlich sei aber, dass sich die Sicherheitslage nach dem Abzug westlicher Soldaten nicht messbar verschlechtert habe - was, so sagt es Laessing, frustrierend sein müsse für die Bundeswehr und die Franzosen. Die haben in den vergangenen Jahren schließlich viel in ihre Einsätze in Mali investiert.

Die Ausrüstung der malischen Streitkräfte wurde vom Westen finanziert - etwa dieses gepanzerte Fahrzeug vom Typ "Casspir", das von Deutschland bezahlt wurde.

Die Ausrüstung der malischen Streitkräfte wurde vom Westen finanziert - etwa dieses gepanzerte Fahrzeug vom Typ "Casspir", das von Deutschland bezahlt wurde.

(Foto: Issio Ehrich)

Mali geriet 2012 in die Krise. Nach dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi kehrten Kämpfer aus dessen Söldnerarmee in ihre Heimatländer im Sahel zurück. Im Norden Malis entwickelten sich die ehemaligen Söldner zum Rückgrat eines Aufstands von Tuareg-Rebellen gegen die Regierung des Landes. Sie nahmen eine Stadt nach der anderen ein. Doch schnell kaperten islamistische Kräfte in den Reihen der Tuareg den Aufstand und drohten, mit der Einführung der Scharia immer weiter nach Süden vorzustoßen.

Die damalige Regierung Malis rief die einstige Kolonialmacht Frankreich zu Hilfe. Der gelang es mit Kampfjets, Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen, die Islamisten wieder aus den Städten zu verdrängen. 2013 folgte die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen, kurz Minusma. Die Bundesrepublik beteiligte sich phasenweise mit deutlich mehr als 1000 Soldaten pro Kontingent daran, gab für ihre zehn Jahre vor Ort mehr als vier Milliarden Euro aus. Französische und deutsche Soldaten mussten auch den höchsten Preis zahlen: Dutzende verloren das Leben. Für die Vereinten Nationen entwickelte sich die Mission zu einer ihrer gefährlichsten Operationen weltweit. Und doch brachte sie womöglich wenig.

Nachdem sie 2013 aus den Städten verdrängt worden waren, weiteten die Islamisten ihr Herrschaftsgebiet bald wieder aus. Schnell bedrohten sie nicht mehr nur den Norden Malis, sondern auch dessen Zentrum, dann das benachbarte Burkina Faso und Niger. Mittlerweile verüben die Gruppen, von denen auch etliche Kämpfer mit dem selbsternannten Islamischen Staat verbunden sind, selbst in den Küstenstaaten am Golf von Guinea blutige Anschläge. Die Sahelzone hat den Nahen Osten als Hotspot des islamistischen Terrors abgelöst.

Aus Jubel wurde bittere Enttäuschung

Die Gründe für das westliche Scheitern sind vielschichtig. Frankreich machte große Fortschritte bei der gezielten Tötung von Dschihadisten-Führern, aber investierte viel zu wenig in den Kampf gegen die Ursachen des Terrors im Sahel - Armut und Perspektivlosigkeit, fehlende Staatlichkeit und soziale Gerechtigkeit. Die Gruppen rekrutierten mehr Männer, als Frankreich je ausschalten konnte. Die Bundeswehr und die anderen Blauhelmsoldaten wiederum hatten ein derart zaghaftes Mandat, dass es oft so aussah, als würden sie dem Morden der Dschihadisten nur tatenlos zusehen.

Nach anfänglichem Jubel für die Hilfe aus dem Westen machte sich in der Bevölkerung Malis schnell Enttäuschung breit. Und diese Enttäuschung wurde so bitter, dass sie zur Zutat für Umwälzungen von historischen Dimensionen in der ganzen Region werden sollte. 2020 putschen in Mali frustrierte Soldaten ihren als korrupt und tatenlos geltenden Präsidenten aus dem Amt. Und sie versprachen, nun alles besser zu machen. Vor allem beim Thema Sicherheit.

Die Junta erklärte nicht nur den gestürzten Präsidenten, sondern auch dessen Partner aus dem Ausland, Frankreich und die Blauhelme samt der Bundeswehr, zum Teil des Problems und jagte sie aus dem Land. Sie genoss dabei den Rückhalt der meisten ihrer Bürgerinnen und Bürger. Denn das Scheitern Europas in Mali nährte alte Ressentiments. Viele Malierinnen und Malier glaubten, dass es Europa am Ende nie darum gegangen sei, dem Land zu helfen, sondern bloß darum, den eigenen Einfluss in der Region auszuweiten. Die internationalen Militäroperationen als ein Ausdruck der nicht enden wollenden Kolonialisierung Afrikas durch Europa. Es war eine Erzählung, die nicht nur in Mali verfing, sondern auch in Burkina Faso und Niger. Dort kam es 2022 und 2023 zu Militärputschen. Und auch dort wurden westliche Soldaten zum Abzug gezwungen. Die Forderung echter "Souveränität" ertönte vielerorts im Sahel und darüber hinaus. Sie wurde zum Schlachtruf einer jungen Generation von Afrikanerinnen und Afrikanern, die es leid waren, in Fassadendemokratien zu leben, die nichts für sie bewirkten.

Das Danke vergessen?

Europäische Politiker rechtfertigen den Einsatz in Mali oft damit, dass es ohne ihren militärischen Einsatz dort nur noch schneller bergab gehen würde. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron argumentierte bis zuletzt so. "All die afrikanischen Regierungen hatten angesichts der öffentlichen Stimmung nicht den Mut, anzuerkennen, dass ihre Länder heute nicht souverän wären, wenn die französische Armee nicht in der Region aktiv gewesen wäre", sagte Macron Anfang Januar. "Manche haben vergessen, Danke zu sagen." Worte, die in den Ohren vieler Malierinnen und Malier nach den umstrittenen Einsätzen des Westens im Sahel wie Hohn klingen. Und Worte, die angesichts der jüngsten Opferstatistiken kaum überzeugender wirken dürften, zumindest nicht in Mali. Im benachbarten Niger stiegen die Zahlen getöteter Zivilisten - allerdings auf verhältnismäßig niedrigem Niveau. 2024 waren es 425. In Burkina Faso, das zuletzt besonders heftig vom Terror getroffen wurde, schien die Lage zu stagnieren. 2023 schnellte die Zahl getöteter Zivilisten auf 2.398 hoch. 2024 sank sie dann leicht auf 2353. Die Daten von Acled sind nicht perfekt, aber sie sind eine der wenigen systematischen und professionellen Versuche, Trends der Gewalt in der Region abzubilden.

"Dass der Sahel kurz vorm Kollaps stünde, wie immer wieder zu lesen ist, ist meines Erachtens schlicht Unfug", sagt ein Kenner der Region, der seit Jahren immer wieder in Mali arbeitet, sich wegen seiner exponierten Position dazu aber nicht namentlich äußern möchte. "Fakt ist, dass das Militär mittlerweile die Kontrolle über das Land im Großen und Ganzen zurückgewonnen hat." Der Experte aus Deutschland fügt hinzu: "Ich glaube, dass ein intern geführter Antiterrorkampf langfristig erfolgreicher ist als ein internationaler."

Mehr als vorsichtigen Optimismus verbreitet aber auch dieser Experte nicht. "Der Weg ist leider verschlungener, als es alle - auch ich - wahrhaben wollen", sagt er. Selbst den oft herbeibeschworenen Zusammenbruch Malis schließt er in letzter Konsequenz nicht aus - allerdings nicht wegen der Sicherheitslage, sondern "weil die Leute die Schere zwischen Hoffnungen, die von den Militärs geschürt wurden, und Realität nicht mehr ertragen".

Der neue Partner ist Russland

Die Junta in Mali hat ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht nur eine bessere Sicherheitslage versprochen, sondern auch in Aussicht gestellt, die bis heute existierenden Strukturen des Kolonialismus zu überwinden. Und einen Erfolg bei diesem Schritt bemessen die Bürgerinnen und Bürger Malis auch in mehr Wohlstand. Ein gigantisches Unterfangen. Die Länder des Sahel zählen zu den ärmsten der Welt, sind besonders heftig vom Klimawandel betroffen und stehen vor der Herausforderung, die Bedürfnisse einer schnell wachsenden Bevölkerung zu befriedigen. Aufgaben, die sich nicht in ein paar Jahren bewältigen lassen. Hinzu kommt: Ganz so souverän, wie es die Führung in Bamako nun gerne darstellt, ist auch ihr Kampf gegen die bewaffneten Gruppen nicht. Die Militärregierung hat sich ausgerechnet Russland als neuen Partner ins Land geholt, setzt auf die Hilfe von Söldnern, die selbst für schwerste Menschenrechtsverbrechen an Zivilisten verantwortlich gemacht werden. Und auch 2024 sind die Länder im Sahel ja weit davon entfernt, das Terror-Problem zu lösen. Es läuft nur nicht messbar schlechter als mit dem Westen. "Das Land verfällt aus meiner Sicht nicht im Chaos, Unsicherheit ist jedoch weiterhin stark präsent im Alltag der Bevölkerung", sagt Svenja Bode, Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako.

An einer Kreuzung am Rande von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, weht die Flagge Burkina Fasos im Wind, darunter eine Fotomontage, die Präsident Ibrahim Traoré mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin zeigt.

An einer Kreuzung am Rande von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, weht die Flagge Burkina Fasos im Wind, darunter eine Fotomontage, die Präsident Ibrahim Traoré mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin zeigt.

(Foto: Issio Ehrich)

Die Soldaten in Mali hatten ihren Bürgerinnen und Bürgern nach dem Sturz des Präsidenten schnelle Wahlen versprochen. Doch Junta-Chef Assimi Goïta ließ alle Fristen verstreichen. Der versprochene antikoloniale Befreiungsschlag droht andere Formen der Unfreiheit zu schaffen. Die Presse wurde unter Goïtas Herrschaft immer weiter eingeschränkt. Viele Malierinnen und Malier wagen es nur noch hinter verschlossenen Türen, Kritik am Kurs ihrer Regierung zu äußern. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International prangert willkürliche Verhaftungen und die Unterdrückung von Versammlungen an.

Noch, so scheint es, nimmt die Bevölkerung diese Eingriffe in ihre Rechte hin - in der Hoffnung darauf, dass solche Härten für einen epochalen Wandel wie die Überwindung moderner Formen des Kolonialismus notwendig seien. Doch es ist unklar, wie lange das so bleibt. Hinter verschlossenen Türen wird in Mali durchaus hitzig diskutiert.

In der deutschen Öffentlichkeit gibt es seit dem Abzug der Bundeswehr dagegen kaum noch Debatten über Mali und die Erfolgsbilanz des Westens im Sahel. Für viele Politikerinnen und Politiker endet der Kampf gegen den Terror kurz vor der Bundestagswahl im Februar an den deutschen Grenzen. Für die Bundeswehr wiederum ist die Lage offenbar vor allem eines: unbequem. Das Verteidigungsministerium weigert sich, die Sicherheitslage in Mali mit Blick auf die sinkende Zahl getöteter Zivilisten öffentlich zu bewerten.

Der Autor: Issio Ehrich bereist die Staaten der Sahelzone seit Jahren. Ende 2024 ist sein Buch "Putsch - der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika" erschienen. Der freie Journalist und Fotograf aus Berlin seziert darin nicht nur den erfolglosen Einsatz westlicher Soldaten in Mali. Er zeigt vor allem, wie Europäer, die sich gern als Verfechter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Szene setzen, in Afrika korrupte politische Systeme stützen.

Quelle: ntv.de

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