"Geht, wenn ihr könnt" Ukrainer retten Landsleute aus der Todeszone

Die neue russische Strategie kommt lautlos – bis sie trifft. Drohnen statt Soldaten, Angst überall statt nur an der Frontlinie. Ihr Ziel: die Zivilbevölkerung. In der Ostukraine rettet das Team von East SOS Menschen vor Russlands Luftterror.
Ein dumpfes Grollen in der Ferne, ein Knall oder ohrenbetäubende Explosionen - teils im Minutentakt erschüttern russische Luftangriffe Kramatorsk, Slowjansk, Kostjantyniwka und andere Orte im Osten der Ukraine. Laut dem US-Institute for the Study of War treffen sie überwiegend zivile Gebäude und Wohnungen. Nur Sekunden liegen zwischen dem Pfeifton der Rakete, dem Summen der nahenden Drohne und dem Einschlag. Gleitbomben explodieren ohne Warnung. Ihre Botschaft: Nirgends bist du sicher.
Nach einer weiteren Nacht voller Angriffe steht der achtjährige Kyrylo vor dem Eingang des Wohnhauses seiner Familie in Slowjansk. Neugierig blickt er in den Kleinbus der Hilfsorganisation East SOS, der dort wartet. In routinierter Eile verstaut Fahrer Roman Buhaiov die Taschen. "Komm, steig ein!", ruft er - keine Zeit zu verlieren in Slowjansk, wo selbst die kurzen Pausen trügerisch sind. Sein Kollege Eduard Skoryk bringt weiteres Gepäck; kurz darauf erscheint Olena, 31 Jahre alt, die Mutter des Achtjährigen. Seine einjährige Schwester hat sie an sich gedrückt. Ein letzter Blick hinauf zur Wohnung, in der sie aufgewachsen ist. Dann verlässt die Familie Slowjansk - vielleicht für immer.
"Die Frontlinie hat sich aufgelöst"
Hunderttausende Ukrainer sind seit dem Sommer aus den Regionen Donezk und Dnipropetrovsk geflohen. Geschätzt müssen bis zu 200.000 weitere Menschen allein aus der Region Donezk evakuiert werden, darunter Zehntausende Kinder, Alte und Pflegebedürftige. Eine logistische Mammutaufgabe, gestemmt von einem Netzwerk aus Hilfsorganisationen, Rettungsdiensten, Polizei und Ehrenamtlichen.
Seit Beginn der russischen Vollinvasion evakuiert das Team der Hilfsorganisation East SOS Menschen aus den umkämpften Städten der Ostukraine. Doch die Regeln des Krieges haben sich verändert: "Die Frontlinie hat sich aufgelöst", sagt Roman. "Sie ist ständig in Bewegung, erreicht Dörfer, Felder und Straßen weit hinter den Kämpfen."
Anfang September griffen russische Drohnen Häuser und Autos bis zu 50 Kilometer vor der Frontlinie an. Ein Risiko nicht nur für die Militärlogistik, sondern auch für Fluchtrouten und humanitäre Knotenpunkte. Fern der diplomatischen Debatten kippt in der Ostukraine die Lage für die Menschen. Die Angst wächst.
Fluchtrouten sind unter Beschuss
"Die 10-Kilometer-Zone ist definitiv eine Todeszone - oft ist sie breiter. Dort liegt die Wahrscheinlichkeit für Drohnentreffer bei 50 Prozent, wenn nicht sogar höher", meint NGO-Helfer Eduard, während er den Wagen aus der Stadt herauslenkt. Kollege Roman nickt: "Und es ist keineswegs sicher, dass ein Störsender dagegen hilft." Bereits im August verursachten First-Person-View-Drohnen laut UN-Angaben die meisten zivilen Opfer in Frontnähe: 58 Tote und 272 Verletzte. Ein aktueller UN-Bericht dokumentiert über 500 Fälle systematischer russischer Drohnenangriffe auf ukrainische Zivilisten.
Geflüchtete und ihre Helfer müssen sich auf einer dynamischen Landkarte der Bedrohung zurechtfinden. Während wöchentlich Hunderte Menschen evakuiert werden, passt sich das Team stetig an: "Früher, in Bachmut, evakuierten wir fast schon an der Nulllinie," erinnert sich Eduard. Damals galt die größte Angst den Positionen feindlicher Soldaten. "Heute kommen wir gar nicht mehr so nah heran - selbst mit Drohnenjammer und gepanzertem Wagen."
Schon bald könnte ein Radius von 40 Kilometer zu gefährlich für das Team sein, meint Roman. Ein Grund sind Russlands Molnjia-Flügeldrohnen: "Bei den Molnjia-Drohnen fixieren sie einfach die Steuerung. Sie fliegen weiter, auch wenn sie gestört wurden," erklärt Roman. Und sie dienen russischen FPV-Drohnen als "Taxi", ermöglichen so, Distanzen bis zu 40 Kilometern zu überwinden.
Mit dem Drohnenkrieg wird jede Evakuierung auch zu einem Kostenfaktor: Während zerstörerische Drohnen billig sind, kosten Jammer und gepanzerte Autos ein Vielfaches. Doch sobald ein System angeschafft wurde, scheint es bereits nutzlos, denn der Gegner hat nachgerüstet. Eduard seufzt. Heute sind sie ohne Jammer und gepanzerten Wagen unterwegs, die teure Ausrüstung reicht nicht für alle Teams.
Filigrane Schutznetze gegen Drohnenterror
Auf der Fahrt aus Slowjansk sieht man zerbombte Tankstellen. "Das ist das erste Zeichen, dass es wirklich an der Zeit ist, zu gehen", meint Roman. Oft müssen sie sich ohne GPS orientieren - zum Schutz vor Angriffen wird das Signal gestört.
Die Fahrt ins Hinterland führt durch Tunnel aus weißen und grünen Fischernetzen. Doch immer wieder wird der filigrane Schutzschild unterbrochen, sodass nur noch die Balken sichtbar sind. Ab und zu passiert man Bauarbeiter und Soldaten, die entlang der Strecke die wichtigen Drohnenschutznetze errichten - und dabei selbst der Gefahr aus dem Himmel ausgeliefert sind. Es gehe zu langsam voran, meint Roman, während er den Drohnendetektor prüft.
"Kommt das vom Auto?" Der Achtjährige horcht auf ein Geräusch. "Das kommt vom Auto, keine Angst", beruhigt ihn Olena. Kyrylo schmiegt sich an seine Mutter. "Wann sind wir da?" Sie lacht. "Noch lange nicht. Das dauert." Ihrem Sohn zuliebe ist sie geflohen, obwohl sie noch keine Wohnung gefunden hat. "Er hat sich in den letzten Wochen sehr gefürchtet, schläft schlecht und erschrickt leicht."
"Wir sagen den Menschen, geht, wenn ihr könnt"
Heute wird die Familie das Transitzentrum in Pawlohrad erreichen. Dann geht es mit dem Zug nach Dnipro, wo die drei bei einer Freundin unterkommen. Wie es weitergeht, weiß Olena nicht. Doch in Dnipro hat Kyrylo zum ersten Mal die Chance auf Präsenzunterricht - und viele Gleichaltrige, mit denen er spielen kann.
"Wir erklären den Menschen tagtäglich: Geht, wenn ihr könnt", sagt Eduard. Den Schmerz der Familien, die ihre Heimat verlieren, versteht der 33-Jährige gut: Er schloss sich East SOS an, nachdem er seine eigene Familie aus Bachmut herausbringen musste. Unter Beschuss evakuierte er seinen Großvater, der weiter ausgeharrt hatte. "Mir wurde klar: Viele Menschen können nicht für sich selbst sorgen - aber sie alle verdienen Schutz."
In der Ukraine wird dieser Schutzraum immer knapper: "Der Staat hat keinen freien Wohnraum mehr. Null", sagt Roman. East SOS unterstützt deshalb bestehende Einrichtungen, renoviert Gebäude, richtet Pflegeplätze ein. Doch für weitere Menschen ist kaum Platz. Die Folge: Evakuierungen stocken.
Die Hilfsorganisationen und Einrichtungen schlagen Alarm: Ohne weitere Plätze für alte und bettlägerige Menschen droht eine humanitäre Katastrophe: Bleiben sie zurück, sind sie und ihre Verwandten hilflos Russlands Luftterror ausgeliefert - oder drohen zu verhungern, wenn die pflegenden Angehörigen sterben. Auch solche Fälle kennen die beiden.
Während Slowjansk und Kramatorsk sich leeren, verlagert sich die humanitäre Infrastruktur: In Losowa, Region Charkiw, ist ein weiteres Transitzentrum entstanden. Hunderte Menschen kommen täglich an. So auch der 12-jährige Andrey. Auf dem Schoß hält er die Transportbox mit seiner Katze. Der Blick des Jungen geht ins Leere. Psychologin Nataliia Levchenko setzt sich dazu und redet leise auf ihn ein.
Den Krieg müsse sie den Kindern nicht erklären, sagt Levchenko: "Sie wissen genau, was in unserem Land geschieht. Überraschenderweise weint keines von ihnen." Häufiger betreue sie Erwachsene. "Manchmal erfahren sie bei ihrer Ankunft vom Tod eines Nahestehenden, der es nicht rechtzeitig geschafft hat. Wir versuchen sie zu stabilisieren."
Mutter Ljubow Pimenova, 49, ist mit Sohn Andrey aus Bilozerske geflohen. Die Mutter war für ihren Job als Telefonistin in der Mine geblieben. "Natürlich hatte Andrey Angst, besonders als die Bombardierung mit den Lenkbomben begann." Vor einem Monat flohen sie nach Nowodonetsk, um wieder Strom und Wasser zu haben. Der Junge lebte zurückgezogen, dennoch wollte er nicht weg. "Kaum hatte ich beschlossen, wir fliehen, war es wieder ruhiger und er wollte nicht. 'Wohin gehen wir?', fragte er mich dann. Sobald es wieder laut wurde, fragte er mich 'Wann gehen wir?' Jetzt sind wir hier." Die Zukunft macht ihr Angst. Ljubow war schon einmal geflohen, fand aber in zwei Städten keine Arbeit und ging - trotz der Gefahr - zurück.
Drei Tage ohne Wasser und Strom
Erste Station für viele ist das Transitzentrum in Pavlohrad. Von dort wird es in den kommenden Tagen weitergehen. Koordinatorin Alla Riabtseva ist selbst Geflüchtete, versteht die Ängste und die Verzweiflung derjenigen, die ankommen. "Bis August hatten wir normale Zahlen, zwischen 80 und 150 Personen pro Tag. Dann begannen sie anzusteigen, auf 250 pro Tag, weil auch unsere Region Dnipropetrowsk betroffen war." Im August wurde erweitert, auf 250. Doch Ende August kamen im neuen Zentrum bis zu 450 Menschen täglich an. "Unser Personal kommt an seine Grenzen", sagt Riabtseva. "Aber wir wissen, warum wir das tun."
Man bereite sich mental auf jedes Szenario vor: "Pawlohrad ist jetzt eine Frontstadt." Seit einer Woche ist sie Ziel massiver Drohnen- und Raketenangriffe. Drei Tage lang gab es kein Wasser und keinen Strom. Wer es sich leisten kann, verlässt die Stadt. Doch das Transitzentrum arbeitet weiter - mithilfe von Generatoren.
Für Roman und Eduard ist die Rückfahrt in die Todeszone rund um Kramatorsk zur gefährlichen Routine geworden. Sie wissen, dass Drohnen jeden treffen können. "Es ist beängstigend, das eigene Fahrzeug im Livestream auf dem kleinen Bildschirm zu sehen", sagt Roman, den Drohnendetektor stets in der Hand. Doch sie werden bleiben, sagt Eduard. Während Russland immer größere Gebiete in Angst versetzt, setzen sie ein Zeichen der Menschlichkeit.