
Surowikin (l.) ist nun Gerassimows Stellvertreter. Auch vorher hatte er schon an den Generalstabschef berichtet - zumindest offiziell.
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Am 8. Oktober wurde General Surowikin zum Kommandeur der russischen Invasionstruppen in der Ukraine ernannt. Jetzt muss er diese Aufgabe an Generalstabschef Gerassimow abtreten. Ein Kurswechsel ist damit allerdings nicht verbunden.
Das war ein kurzer Einsatz. Erst Anfang Oktober war der russische Armeegeneral Sergei Surowikin zum Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine ernannt worden. Drei Monate später ist er den Posten schon wieder los. Die Führung der russischen Invasionstruppen übernimmt der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow, wie das russische Verteidigungsministerium mitteilte.
Als Degradierung ist die Personalie offenbar nicht zu verstehen, schon gar nicht als Kurswechsel, denn gleichzeitig wurde Surowikin zu Gerassimows Stellvertreter ernannt. Surowikin ist das Gesicht der verstärkten Angriffe auf zivile Ziele, vor allem auf die ukrainische Energieinfrastruktur. Die Terrorkampagne hatte kurz nach seinem Antritt als Kommandeur der Invasionstruppen begonnen.
Schon im Syrien-Krieg war der General durch eine besonders skrupellose Strategie gegen die Zivilbevölkerung aufgefallen. So ist Surowikin verantwortlich für die Zerstörung der syrischen Stadt Aleppo. Kriegsverbrechen waren "General Armageddon", wie sein Spitzname in sozialen Netzwerken lautet, bereits im Tschetschenienkrieg vorgeworfen worden.
"Qualität" und "Effizienz" sollen besser werden
Das russische Verteidigungsministerium stellte den Wechsel an der Spitze der "militärischen Spezialoperation" als normalen administrativen Vorgang dar. Wegen der "Ausweitung des Umfangs der Aufgaben" sei es nötig, eine engere Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Teilstreitkräften zu organisieren. Ziel sei außerdem, Qualität und Effizienz des Kommandos zu verbessern. Neben Surowikin erhielt Gerassimow zwei weitere Stellvertreter: General Oleg Saljukow, Chef der russischen Bodentruppen, und Generaloberst Alexej Kim, stellvertretender Generalstabschef.
Der Wechsel dürfte dennoch Ausdruck einer gewissen Frustration mit dem Verlauf des Kriegs sein. Auch mit der Zerstörung von Kraftwerken und Umspannwerken sowie mit massiven Luftangriffen auf Städte im ukrainischen Hinterland konnte Surowikin den russischen Truppen keinen entscheidenden Vorteil auf dem Schlachtfeld verschaffen. Im Gegenteil: In seine Zeit fällt der Abzug der Russen aus Cherson. Relevante Geländegewinne gab es dagegen seit Oktober nicht.
Erst am Mittwoch bezeichnete Putin die Situation in den aus russischer Sicht "annektierten" Regionen der Ukraine als schwierig. "In einigen Gebieten dauern Kampfhandlungen an", sagte der russische Machthaber bei einem Gespräch mit Vertretern seiner Regierung.
Saljukow reist nach Belarus
Nach Einschätzung der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) soll die Umstrukturierung des Kommandos unter anderem zeigen, "dass Putin bereit ist, einen langen Krieg in der Ukraine zu führen". Die Personalentscheidungen bedeuten demnach ein Festhalten an der bisherigen russischen Strategie, möglichst große Teile der Ukraine zu erobern.
Das ISW geht davon aus, dass sich die russischen Streitkräfte auf eine "entscheidende" Offensive vorbereiten, möglicherweise im Gebiet Luhansk. Auch die ukrainische Armee erwartet einen russischen Vorstoß noch im Winter. "Die Russen bereiten etwa 200.000 Soldaten auf den Einsatz vor. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie es wieder auf Kiew abgesehen haben", sagte der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, dem britischen "Economist" im Dezember. Der Angriff könne im Februar oder März stattfinden, "schlimmstenfalls schon Ende Januar".
Eine neue russische Invasion von Belarus aus hält das ISW für möglich, wenn auch weniger wahrscheinlich. Ob aus diesem oder anderen Gründen: Saljukow, einer von Gerassimows neuen Stellvertretern, reiste einen Tag nach seiner Ernennung nach Belarus. Der Militäranalyst Rob Lee, der am King's College in London über russische Verteidigungspolitik promoviert, schreibt auf Twitter, wenn Russland plane, die belarussische Armee in den Krieg einzubeziehen, dann wäre es sinnvoll, das Oberkommando Gerassimow zu geben.
Unterstützung fürs Establishment
Neben strategischen Gründen nennt das ISW auch mögliche politische Motive dafür, warum Gerassimow die zentrale Verantwortung für den russischen Krieg zugesprochen wurde. Hintergrund ist ein Streit um Einfluss zwischen der Armeeführung um Verteidigungsminister Sergej Schoigu und externen Figuren wie dem Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin. Der inszeniert sich bereits seit einiger Zeit als Kriegsheld, der im Gegensatz zu den Kommandeuren - auch im Gegensatz zu Putin - die Front besuche. Erst am Dienstag behauptete er, dass seine Kämpfer die Kleinstadt Soledar in der Region Donezk fast vollständig erobert hätten. Vom russischen Verteidigungsministerium wurde das nicht bestätigt. Am Donnerstag meldete die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass, es gebe in Soledar noch einige ukrainische Widerstandsnester. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte, in Soledar seien "Heldentaten" geleistet worden, aber "es liegt noch viel Arbeit vor uns".
Surowikin galt als Favorit von Prigoschin für den Chefposten der Invasionstruppen. Gerassimow dagegen gehört als dienstältester Generalstabschef des postsowjetischen Russlands der etablierten Machtelite an. Surowikin durch Gerassimow zu ersetzen, ist demnach ein Signal der Unterstützung für Schoigu, dessen Führung von noch radikaleren Nationalisten - darunter Prigoschin - als zu lasch und erfolglos kritisiert wird. Auch wenn sich solche Kritik in Russland so gut wie nie direkt gegen den Kreml richtet, könnte Putin sich veranlasst gesehen haben, in diesem Machtkampf ein Zeichen zu setzen, dass er zumindest für den Moment auf der Seite des Establishments steht. Zugleich ist es ein Signal mit eingebauter Handbremse: Surowikin wird nicht entlassen oder degradiert, zudem war er schon bisher Gerassimow untergeordnet.
Bereits am Dienstag hatte es eine Personalentscheidung gegeben, die in eine ähnliche Richtung geht. General Alexander Lapin wurde zum neuen Chef der Landstreitkräfte ernannt. Er war vom tschetschenischen Regionaldiktator Ramsan Kadyrow Anfang Oktober "inkompetent" genannt worden. Auch Prigoschin schloss sich dieser Kritik an. Ende Oktober wurde Lapin schließlich als Kommandeur des Militärbezirks Mitte abgezogen.
Quelle: ntv.de