Politik

Im Schatten Mussolinis Warum Meloni keinesfalls am 28. Oktober ihr Amt antreten will

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Giorgia Meloni ist Vorsitzende einer Partei, die in einer Linie zu Mussolinis Faschisten steht.

(Foto: REUTERS)

Mit dem "Marsch auf Rom" vor 100 Jahren übernahm Mussolini die Macht in Italien. Und gerade jetzt ist eine Partei in der Nachfolge von Mussolinis Faschisten dabei, die Regierung in Rom zu übernehmen.

Anfang kommender Woche könnte Italien eine neue Regierung haben. Staatspräsident Sergio Mattarella hat am Donnerstag mit den Konsultationen begonnen und die Parteichefs des Rechts-Mitte-Bündnisses empfangen. Schon heute könnte er Giorgia Meloni, die Vorsitzende der postfaschistischen Fratelli d’Italia, mit der Regierungsbildung beauftragen.

Wann die neue Regierung vereidigt wird, steht noch nicht fest. Auf keinen Fall sollte es aber der 28. Oktober sein. Dieses Datum steht für den "Marsch auf Rom" von Tausenden camicie nere, der Schwarzhemden-Miliz des späteren Diktators Benito Mussolini. Vor 100 Jahren, am 28. Oktober 1922, begann der Marsch der Faschisten auf Rom, mit dem der "Duce", der italienische "Führer", seine Machtergreifung inszenierte.

Fratelli d'Italia

Die Fratelli d'Italia ("Brüder Italiens") wurden 2012 als Abspaltung der Partei Il Popolo della Libertà ("Das Volk der Freiheit") gegründet, einem Zusammenschluss vor allem von Berlusconis Forza Italia ("Vorwärts Italien") und der postfaschistischen Partei Alleanza Nazionale. "Postfaschistisch" war die AN, weil sie 1995 als Nachfolgerin der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano gebildet wurde - deren Flamme tragen die Fratelli bis heute im Parteiwappen. Das MSI wiederum wurde 1946 von Mussolini-Anhängern und ehemaligen Mitgliedern seiner Partei gegründet.

Es ist nicht nur der Jahrestag, sondern auch das Wahlergebnis, das die Parlamentswahl vom vergangenen September in einen historischen Schatten stellt. Der war auch zu spüren, als sich die frisch gewählten Senatoren in der vergangenen Woche zum ersten Mal versammelten, um den Präsidenten ihrer Kammer zu wählen. Den Auftakt der Reden an diesem Tag machte die 92-jährige Senatorin auf Lebenszeit, Liliana Segre, eine Holocaust-Überlebende, deren gesamte Familie von den Nazis ermordet wurde. Das Schlusswort hielt Senator Ignazio Benito Maria La Russa, ein einflussreicher Parteifreund aus Melonis Fratelli d’Italia. Er war zuvor zum Vorsitzenden des Senats gewählt worden - erstmals hat damit ein Politiker mit neofaschistischer Vergangenheit dieses Amt inne.

La Russa, Sohn eines Faschisten

Segre, die Alterspräsidentin der konstituierenden Sitzung, hielt eine gefasste, aber tief berührende Rede, in der sie an die jüngere Vergangenheit Italiens und ihre persönliche Geschichte erinnerte. "In diesem Monat Oktober, in dem der 100. Jahrestag des Marsches auf Rom und der Machtergreifung der Faschisten begangen wird, obliegt es gerade einer wie mir, den momentanen Vorsitz des Senats der Republik, dieses Tempels der Demokratie, zu übernehmen."

Noch symbolträchtiger sei für sie dieser Moment, fuhr Segre fort, wenn sie an den Oktober 1938 und an sich, ein verstörtes und verzweifeltes achtjähriges Mädchen, zurückdenke. Zu jener Zeit fing das Schuljahr im Oktober an, doch die Rassengesetze verboten ihr, wieder in die Schule zu gehen. Jetzt sei es stattdessen gerade ihr beschert, "auf dem angesehensten Stuhl des Senats" zu sitzen. Was für eine schicksalhafte Fügung.

Nach der Wahl zum Präsidenten, war es an La Russa, eine Rede zu halten. Der 75-Jährige ist einer der Gründer der Fratelli d’Italia, zudem Sohn eines überzeugten Faschisten. Seit seiner Kindheit lebt er in Mailand; ältere Mailänder erinnern sich noch an den picchiatore, den Schläger La Russa. In den 1970er-Jahren, als es in Mailand regelmäßig zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen Links- und Rechtsradikalen kam und es auf beiden Seiten auch Tote gab, gehörte er zur Führungsriege einer neofaschistischen Jugendorganisation. In seiner Rede gedachte La Russa sowohl der neofaschistischen wie auch der linksradikalen Opfer und versicherte, er werde "die Rechte der Mehrheit und die der Opposition auf die gleiche unnachgiebige Weise verteidigen".

Wie viel Faschismus steckt noch in den Postfaschisten?

Trotz seines zweiten Vornamens mag La Russa dieses Versprechen ernst meinen. Das macht eine Äußerung, die er erst vor wenigen Wochen von sich gegeben hat, nicht weniger unverschämt. Da sagte er vor laufenden Kameras: "Wir sind alle Erben des Duce, wenn mit Erbe das Italien unserer Väter und Großväter gemeint ist." Dass er mit dieser Aussage die Partisanen vollkommen ausblendete, geschah sicher nicht unbewusst. Und dann ist da noch sein älterer Bruder Romano, der vor einer Woche bei einem Trauerzug den römischen Gruß machte.

La Russa versuchte zwar, diese Geste als Lappalie abzutun. Doch die Fragen liegen auf der Hand: Wie viel vom alten Faschismus steckt in den heutigen Postfaschisten? Und, drängender noch: Gibt es Parallelen zwischen den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts und der jetzigen Dekade?

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Mussolini am 28. Oktober 1922 beim Marsch auf Rom.

(Foto: picture-alliance / akg-images)

Natürlich gibt es keine Schwarzhemden mehr, die damals die Bevölkerung in Angst versetzten und die Hauptquartiere der politischen Gegner zerstörten. Pandemie, Lockdowns und Impfpflicht haben aber in Italien, wie überall in Europa, Tausende Unzufriedene mobilisiert, darunter viele Rechtsradikale. In Italien erreichte die Protestwelle ihren Höhepunkt vor einem Jahr, am 9. Oktober, als eine Meute von Neofaschisten und militanten Impfgegnern das Hauptquartier der Gewerkschaft CGIL stürmten und zerstörten.

Am Anfang war die politische Sackgasse

Und dann ist da noch die politische Parallele. In seinen Harvard-Vorlesungen zur Machtergreifung der Faschisten erläuterte der aus Italien geflohene Historiker Gaetano Salvemini Anfang der 1940er-Jahre, wie sich die Politik in den Jahren vor dem Marsch auf Rom in einer Sackgasse befunden habe. "Politik heißt Kompromisse schmieden", schreibt Salvemini, doch genau das funktionierte nicht. Die katholische Volkspartei wollte nicht mit den sozialistischen Bolschewiken kooperieren, die Sozialisten nicht mit den bürgerlichen und kapitalistischen Katholiken. "Und so konnte sich das System nur festfahren." Die damaligen Politiker hätten einfach darauf gewartet, dass die schwarze Welle wieder abebbt.

Auch heute steckt die italienische Politik in einer Sackgasse. Die Wurzeln liegen im Ende des Kalten Kriegs und dem ein paar Jahre später folgenden Korruptionsskandal Tangentopoli, der das alte Parteiensystem wegfegte. Die italienische Politik wurde immer mehr zu einer One-Man-Show, angefangen mit Berlusconi. Statt die Weichen für die Zukunft des Landes zu stellen, wurde und wird bis heute das jeweilige Ego gepflegt. Nach dem "Cavaliere" kam der "Rottamatore", der "Verschrotter" Matteo Renzi. Ihm folgten Matteo Salvini, der "Capitano" der nationalpopulistischen Lega, und der Komiker Beppe Grillo, Gründer der Anti-Systembewegung Fünf Sterne. Jeder von ihnen galt eine Zeit lang als Heilsbringer der Nation. Doch wie sie kamen, so gingen sie auch.

Jetzt ist es Giorgia Meloni. Sie bekennt sich zur NATO, pflegt aber gleichzeitig Kontakte zu Marine Le Pen, der Vorsitzenden des rechtsradikalen Rassemblement National in Frankreich, außerdem zu Befürwortern der "illiberalen Demokratie" wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und der polnischen PiS-Partei. Sie versichert den Rechtsradikalen der spanischen Partei Vox ihre volle Unterstützung und hat den aus demselben politischen Milieu stammenden Schwedendemokraten unlängst zu ihrem Wahlerfolg gratuliert.

Wer mehr über den Marsch auf Rom wissen möchte, sollte Emilio Lussus Zeitzeugenbuch "Marsch auf Rom und Umgebung" aus dem Jahr 1931 lesen, dessen deutsche Fassung gerade noch einmal veröffentlicht wurde. Sein Bericht ist faszinierend, weil er den Frust des normalen Bürgers beschreibt, die Wut der Soldaten, die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen und nun mittel- und arbeitslos dastanden. Er beschreibt, wie sich glühende Antifaschisten in glühende Faschisten wandelten. Das Buch endet trotz allem hoffnungsvoll: "Die Welt geht weder nach rechts noch nach links. Sie dreht sich um sich selbst, wie eh und je, mit regelmäßigen Sonnen- und Mondfinsternissen."

Quelle: ntv.de

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