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"Mit wem sollen wir verhandeln?" Warum Putin Desinformation über Selenskyj verbreitet

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Putin am Montag bei einem Treffen mit einem russischen Gouverneur.

Putin am Montag bei einem Treffen mit einem russischen Gouverneur.

(Foto: AP)

Der russische Machthaber fragt öffentlich, mit wem Russland in der Ukraine denn verhandeln könne - schließlich sei die Amtszeit des ukrainischen Präsidenten beendet. Putin verbreitet damit eine Lüge. Nicht ohne Grund.

Über Monate warnte der ukrainische Militärgeheimdienst HUR davor, dass Russland nach dem 20. Mai wieder eine Kampagne hochfahren würde: dass Präsident Wolodymyr Selenskyj spätestens nach diesem Datum nicht mehr als legitimes Staatsoberhaupt der Ukraine betrachtet werden darf. Denn die Amtszeit des ukrainischen Präsidenten ist auf fünf Jahre begrenzt; Selenskyj trat sein Amt am 20. Mai 2019 an.

Nicht nur Kreml-Propagandisten und der russische Auslandsgeheimdienst SWR haben das Motiv aufgegriffen. Auch Putin, dessen eigene Legitimität spätestens nach dem Beginn seiner fünften Amtszeit Anfang des Monats massiv infrage steht, thematisierte das angebliche Ende von Selenskyjs Befugnissen als Präsident gleich mehrfach.

Für Russland sei die Angelegenheit deswegen wichtig, so Putin, weil Moskau im Falle von Verhandlungen wissen müsse, über welche Legitimität Personen verfügten, mit denen es möglicherweise in Zukunft Vereinbarungen abschließen werde. "Mit wem sollen wir verhandeln?", frage er bei einem Besuch in Belarus. Die "Legitimität des amtierenden Staatsoberhaupts" sei beendet. Am Dienstag legte der russische Machthaber noch einmal nach - und behauptete mit Verweis auf Artikel 111 der ukrainischen Verfassung, dass die Präsidentenbefugnisse nach dem Auslaufen der fünfjährigen Amtszeit an den Vorsitzenden des Parlaments, der Werchowna Rada, übergehen sollten.

Der Mythos vom "Putsch"

Nach der Maidan-Revolution 2013/2014 hat sich der Blick des Kremls auf die angebliche Legitimität der ukrainischen Präsidenten je nach politischer Großwetterlage stark verändert. Nach der Flucht des Ex-Präsidenten Wiktor Janukowytsch nach Russland spielte Moskau zunächst die Karte aus, dass die ukrainische Verfassung die Möglichkeit der Flucht des Staatsoberhaupts in ein anderes Land nicht vorsah. Rein formell durfte der Präsident erst abgesetzt werden, nachdem er einen Monat lang nicht an seinem Arbeitsplatz erschienen war. Das konnte sich die Ukraine unter den damaligen Chaos-Umständen realistischerweise jedoch nicht erlauben. Dem Kreml diente das als Grundlage für den beliebten Mythos über den "Putsch" in Kiew.

Die beiden späteren Präsidenten Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj, die ihre Wahlen jeweils klar gewonnen hatten, erkannte Moskau zwar grundsätzlich als legitim an, gratulierte aber nicht zu den jeweiligen Wahlsiegen. Mit beiden hat Putin telefoniert und sie im Rahmen des sogenannten Normandie-Formats getroffen, also auf Gipfeln, bei denen auch die damalige deutsche Kanzlerin und der französische Staatspräsident anwesend waren. Bei jeder Zuspitzung in den Beziehungen beider Länder kam aus Russland jedoch immer wieder die Behauptung, Poroschenko beziehungsweise Selenskyj seien gewissermaßen in der Nachfolge eines "ultranationalistischen Putsches" an die Macht gekommen. "Dieses Regime ist voll und ganz und ohne Einschränkung ein Produkt des Staatsstreichs im Jahre 2014", sagte Putin in seiner langen Ukraine-Rede vom 21. Februar 2022, in der er den russischen Überfall auf das Nachbarland noch nicht ankündigte, aber bereits rechtfertigte. Seither spricht Russland nur noch vom "Kiewer Regime".

Dass diese Darstellung nichts mit der Realität zu tun hat, steht außer Frage: Zunächst einmal gewann Poroschenko im Mai 2014 bei fairen und freien Wahlen noch im ersten Wahlgang - und in der Stichwahl, die fünf Jahre später nötig wurde, schlug Selenskyj ihn mit fast 73 Prozent. Doch ist an den aktuellen Putin-Aussagen zumindest etwas dran? Die Frage, ob die Ukraine in Zeiten des Kriegsrechts Wahlen abhalten könne und sollte, wurde in der Ukraine bereits im vergangenen Jahr diskutiert. Öffentlich hat keiner der Verbündeten auf Wahlen bestanden. Intern soll es trotzdem etwas Druck gegeben haben. Offen haben aber nur der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg und der republikanische US-Senator Lindsey Graham auf der Wahlaustragung gepocht.

Was Putin über Artikel 111 sagt, stimmt nicht

Die Behauptung, Selenskyjs Befugnisse würden auslaufen, basieren vor allem auf zwei Verfassungsartikeln. Artikel 83 besagt aber lediglich, dass im Falle des Kriegsrechts die Befugnisse des Parlaments verlängert werden - und Artikel 103 definiert die fünfjährige Amtszeit des ukrainischen Präsidenten. (Zum Vergleich: Das Grundgesetz sieht für den Verteidigungsfall ausdrücklich eine Verschiebung der Wahlen vor.) Das lange vor Selenskyj verabschiedete Kriegsrechtsgesetz wie auch das Wahlrecht schreiben zugleich vor, dass jegliche Wahlen unter Kriegsrecht ausgesetzt werden. Vor allem steht aber im von Putin angesprochenen Artikel 111 nicht mal ansatzweise das, was der Kremlchef behauptet: In der ukrainischen Verfassung findet sich kein Wort darüber, dass nach dem Auslaufen der fünfjährigen Amtszeit unter Kriegsrecht die Befugnisse des Präsidenten an den Parlamentsvorsitzenden übergehen.

Die Artikel 108 bis 112 der ukrainischen Verfassung formulieren das Prinzip der Machtkontinuität. So steht etwa in Artikel 108, dass der Präsident der Ukraine seine Befugnisse bis zum Amtsantritt des neu gewählten Präsidenten ausübt. In der Praxis hat bisher kein ukrainischer Präsident, der die volle Amtszeit durchmachte, exakt fünf Jahre gearbeitet - alle waren etwas länger im Amt. Es gibt lediglich vier Gründe, um die Befugnisse des Präsidenten vorzeitig zu beenden: Rücktritt, schwere Krankheit, Amtsenthebung und Tod. In diesen Fällen fungiert der Parlamentsvorsitzende tatsächlich als Interimspräsident mit eingeschränkten Befugnissen. Keiner dieser Fälle trifft auf die aktuelle Situation zu.

Trotzdem kommt die von Putin angeführte russische Desinformationskampagne alles andere als überraschend. Wolodymyr Selenskyj Umfragewerte sind nicht mehr so sensationell hoch wie zu Beginn des russischen Angriffskriegs. Ihm vertraut weiterhin die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung - und er dient unverändert nicht nur als Symbol des ukrainischen Widerstands, sondern als Figur, die viele Ukrainer im Abwehrkampf gegen Russland vereint. Da der Kreml auf die Zermürbung der Ukrainer setzt, ist alles, was die Legitimität des ukrainischen Staatsoberhaupts infrage stellt, aus Kremlsicht gut. Umso wichtiger ist die jüngste Festnahme von zwei hochrangigen Mitarbeitern der ukrainischen Sicherheitsbehörde UDO, die für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB gearbeitet haben sollen. Eine der Hauptaufgaben von UDO ist nämlich, Selenskyj zu bewachen - und es ist ein Hinweis, dass die Ermordung des ukrainischen Präsidenten für Moskau unverändert eine Option bleibt.

Putin will die ukrainische Gesellschaft destabilisieren

Doch welche Ziele verfolgt der Kreml, wenn er Selenskyjs Legitimität infrage stellt? Dass Russland mit dieser These im Westen weit kommt, ist unwahrscheinlich: Sicherlich gibt es dort ein Publikum, das offen ist für eine derart durchschaubare Desinformation. Besonders groß ist es jedoch nicht. Allerdings zeigt sich der Kreml erkennbar genervt vom Mitte Juni anstehenden Friedensgipfel in der Schweiz, in dessen Mittelpunkt Selenskyjs Friedensformel stehen wird. Er will mit allen Mitteln erreichen, dass daran so wenige Länder des sogenannten Globalen Südens teilnehmen, wie es nur möglich ist.

Dahinter steckt aber auch der Versuch, die ukrainische Gesellschaft langfristig zu destabilisieren. Auf den ersten Blick hat das geringe bis keine Erfolgsaussichten. Gleichzeitig ist es aber so, dass rund ein Fünftel der ukrainischen Bevölkerung Selenskyj kategorisch ablehnt - und in diesem Milieu gab es durchaus, wenn auch nicht viele, öffentliche Figuren, die auch ohne russische Propaganda auf die Idee gekommen sind, dass seine Befugnisse am 20. Mai auslaufen.

Hinzu kommt, dass die ukrainische Bevölkerung gerade nicht die optimistischste Phase dieses Krieges durchmacht. Die Lage an der Front ist schwierig, die Mobilmachung wird mit der Zeit immer mehr Menschen betreffen, zudem ist eine Steuererhöhung in den kommenden Monaten praktisch unvermeidlich - und ein Kriegsende ist weiterhin nicht in Sicht. Das heißt nicht, dass die Kreml-Strategie zum Erfolg führen kann. Ernst genommen werden muss sie in Kiew trotzdem.

Quelle: ntv.de

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