Politik

Sommertauglich und winterfest Warum die Ampel die "epidemische Lage" abschafft

Die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" läuft Ende November aus. Das heißt nicht, dass die Pandemie vorbei ist, sondern nur, dass sich die Rechtsgrundlage für die Corona-Maßnahmen ändert.

Die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" läuft Ende November aus. Das heißt nicht, dass die Pandemie vorbei ist, sondern nur, dass sich die Rechtsgrundlage für die Corona-Maßnahmen ändert.

(Foto: picture alliance / CHROMORANGE)

Die Infektionszahlen sind so hoch wie nie während der Corona-Pandemie in Deutschland, die ersten Intensivstationen sind am Limit - doch die Ampel-Parteien wollen die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" abschaffen. Klingt absurd, aber es ist komplizierter.

Was ist die epidemische Lage von nationaler Tragweite?

Die epidemische Lage von nationaler Tragweite ist nicht einfach nur eine abstrakte Notlage, sondern im Infektionsschutzgesetz definiert. Sie liegt dann vor, "wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht", weil erstens "die Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausgerufen hat und die Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit in die Bundesrepublik Deutschland droht" oder zweitens "eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet".

Die epidemische Lage gilt folglich nicht, weil der Bundesregierung danach ist, sondern sie muss vom Bundestag festgestellt werden. Im Infektionsschutzgesetz heißt es ausdrücklich, dass der Bundestag die epidemische Lage wieder aufhebt, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Alle drei Monate muss die Feststellung der Lage verlängert werden, das war zuletzt am 25. August. Wird die Notlage nicht verlängert, gilt sie drei Monate später als aufgehoben. Das wäre am 26. November der Fall.

Wo ist das Problem?

Die epidemische Lage von nationaler Tragweite bildet die Basis für den größten Teil der Corona-Maßnahmen. Läuft sie Ende des Monats ersatzlos aus, können die Bundesländer nicht einmal mehr Maskenpflichten verhängen.

Liegen die Voraussetzungen für die epidemische Lage von nationaler Tragweite noch vor?

Corona breitet sich aktuell unbestreitbar sehr dynamisch über mehrere Bundesländer aus und es besteht "eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit" in ganz Deutschland. Dennoch liegen die Voraussetzungen für die epidemische Lage nicht noch, sondern wieder vor. So sieht es der Gesundheitsrechtler Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg, der im Verfassungsblog schreibt, eine epidemische Lage habe weder am 4. Juni noch am 25. August vorgelegen - das waren die letzten beiden Male, bei denen die Lage festgestellt wurde. Kingreen folgert, "der Bundestag hätte die Feststellung der Lage daher an diesen Tagen nicht nur nicht verlängern dürfen, sondern er hätte sie (…) sogar aufheben müssen". Das meinen Politiker, wenn sie sagen, das Konstrukt der epidemischen Lage sei nicht rechtssicher, es könnte von Gerichten gekippt werden.

Denn die Zahlen der Corona-Infektionen und Hospitalisierungen hängen bekanntlich stark von den Jahreszeiten ab. Wenn der Bundestag sich streng an der Definition des Infektionsschutzgesetzes orientieren würde, "müsste es also zu einem Ping-Pong von winterlichen Feststellungs- und sommerlichen Aufhebungsbeschlüssen kommen", so Kingreen. Er plädiert dafür, "die sinnfreie Konstruktion der 'epidemischen Lage' kaltzustellen und einfach effektive Gefahrenabwehr zu betreiben".

Was will die Ampel?

Nachdem die Notlage zweimal verlängert wurde, obwohl sie nicht hätte verlängert werden dürfen, wird sie nun nicht verlängert, obwohl sie eigentlich verlängert werden müsste. Will man den Ampel-Parteien guten Willen unterstellen, dann schaffen sie das Konstrukt der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ab, um aus dem jahreszeitlich bedingten Selbstbetrug herauszukommen. Will man die Unzulänglichkeit ihrer Pläne hervorheben, wird darauf hingewiesen, dass die Ampel-Parteien erklärt haben, alle Maßnahmen sollten "spätestens mit dem Frühlingsbeginn am 20. März" enden. Und soll betont werden, dass vor allem die FDP die epidemische Lage ablehnt, dann könnte unterstellt werden, dass es hier in erster Linie um juristische Vergangenheitsbewältigung geht.

In der Praxis schafft die Ampel eine neue Rechtsgrundlage für einen Maßnahmenkatalog, der - nach der jüngsten Ergänzung - nah an der bisherigen Rechtslage ist. Der Bundestag soll jetzt auch ausdrücklich die Möglichkeit bekommen, "bis zum 19.3.2022 durch einen Beschluss die Geltungsdauer der Vorschriften um maximal drei Monate zu verlängern". In ihrem Ende Oktober präsentierten Eckpunktepapier hatten die Ampel-Parteien bereits angekündigt, "eine grundlegende Überarbeitung" des Infektionsschutzgesetzes anzustreben.

Was sagen die Kritiker?

Der oben zitierte Beitrag von Thorsten Kingreen ist eine Antwort auf Franz C. Mayer, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Bielefeld. Mayer hatte unter der Überschrift "Besser Gesetze nicht ändern als schlecht ändern" die Pläne der Ampel-Parteien scharf kritisiert. "Die Feuerwehr wirft mitten im Einsatz Teile ihrer Ausrüstung ins Feuer", schrieb er, ebenfalls beim Verfassungsblog. Was den Ländern nach der Änderung bliebe, sei ein "Schmalkatalog". Das von den Ampel-Parteien vorgebrachte Argument, die geltende Infektionsschutzgesetzgebung drohe von den Gerichten kassiert zu werden, stimme nicht, stattdessen scheine die Beendigung der epidemischen Lage "das politische Primärziel, fast schon ein Fetisch" zu sein.

"Das Ausrufen des Endes der epidemischen Lage ist in jeder Beziehung der falsche Weg", sagte auch CSU-Chef Markus Söder. "Deutschland ist mit den bisherigen Gesetzen, die geplant sind, null winterfest. Wir stolpern quasi mit kurzen Hosen und Sommerreifen in einen eiskalten Winter. Es wird nicht funktionieren." Im Bundestag hatte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt den wahrscheinlich neuen Kanzler Olaf Scholz frontal attackiert: "Sie verlassen geradezu das 'Team Vorsicht', und Sie gehen ins Team 'Versuchen mer's mal'." Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus nannte es "Realitätsverweigerung", die epidemische Lage auslaufen zu lassen.

Was sagen die Befürworter?

Mittlerweile haben die Ampel-Parteien ihren Gesetzentwurf nachgebessert und einige Maßnahmen wieder aufgenommen, die zuvor gestrichen worden waren. Vor allem die FDP war ursprünglich stolz darauf, dass nur noch "weniger eingriffsintensive Maßnahmen" ermöglicht werden sollten. Mit den steigenden Infektionszahlen hat sich das erledigt.

Sehr einig sind sich die drei Ampel-Parteien in der Abwehr der Kritik von CDU und CSU. Dies sei "ein plumpes Ablenkungsmanöver, um die eigenen Versäumnisse zu kaschieren", sagte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese. "Auch nach geltender Rechtslage hätte Markus Söder zum Beispiel längst handeln können, wenn er gewollt hätte. Jetzt auf Berlin zu zeigen und jeden Tag etwas Neues zu fordern, ist der durchschaubare Versuch, von niedrigen Impfquoten und hohen Inzidenzen gerade in Bayern abzulenken und sich aus der Verantwortung zu stehlen."

Das sieht Thorsten Kingreen auch so. "In Bayern wird zwar auf der einen Seite das große Wort gegen die Reform geführt, aber auf der anderen Seite gilt erst ab dieser Woche 2G in Gaststätten", sagt er im Interview mit ntv.de. "Das ist schon etwas widersprüchlich." Tatsächlich kann man den Ländern keinen übertriebenen Aktionismus vorwerfen, im Gegenteil: Bei der Ministerpräsidentenkonferenz am 22. Oktober beschlossen sie, "dass die derzeit noch bestehenden Schutzmaßnahmen über den Herbst und Winter hinweg voraussichtlich nicht ausgeweitet werden müssen". Aus heutiger Sicht war das reichlich optimistisch. Kingreen sagt, für die Bekämpfung der Pandemie brauche man kein Notlagenrecht. Er lobt, mit dem Gesetzentwurf der Ampel-Parteien gebe es "endlich ein zielgenaues Instrumentarium".

Quelle: ntv.de

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