NATO-Gipfel mit 2-Prozent-Ziel Die Wahrheit, über die niemand reden will
10.07.2024, 19:47 Uhr Artikel anhören
NATO-Generalsekretär Stoltenberg und US-Präsident Biden beim Jubiläumsempfang für 75 Jahre Bündnis.
(Foto: REUTERS)
Putin abschrecken oder lieber nicht provozieren? Wer soll was bezahlen, und wann bekommt die Ukraine ihre Beitrittsperspektive? So viele drängende Fragen wie jetzt hatte die NATO selten zu besprechen. Bleibt es in Washington bis morgen friedlich, sind entweder viele Probleme gelöst oder die wichtigsten Themen vermieden worden. Vor allem an eines traut sich keiner heran.
Ach, es könnte alles so schön sein. 75 Jahre nachdem ein Dutzend Staaten sich in der US-Hauptstadt Washington trafen, um ein gemeinsames Verteidigungsbündnis zu gründen, kehrt die NATO zu ihren Wurzeln zurück. Wieder in Washington hält sie noch bis morgen ihren Jubiläumsgipfel ab. Angewachsen auf 32 Mitgliedsländer, ist sie mittlerweile ein schwerer Tanker, der sich nicht so leicht manövrieren lässt. Noch immer gilt schließlich das Einstimmigkeitsprinzip.
Und die See ist gerade schwer wie selten. Es peitscht und rumpelt mit Krieg in Europa, in Nahost. Im Indopazifik brodelt es mindestens auch, und im Gastgeberland USA droht Präsident Joe Biden sein Amt im November an Donald Trump zu verlieren. Der drohte in seiner ersten Amtszeit mehr als einmal, die NATO ganz zu verlassen.
Um Himmels willen - keinen Streit!
Um in Stimmung zu kommen für die Feierlichkeiten, müssen die Staatschefinnen und -chefs der NATO-Staaten die große Seewetterlage wohl vorübergehend ausblenden. Auf den Panels, Konferenzen und internen Besprechungen lautet das Ziel des Gipfels aber, genau diese Lage gemeinsam zu studieren, Strategien zu entwickeln für den weiteren Kurs und - um Himmels willen und unbedingt - Geschlossenheit zu zeigen. Vor allem in Richtung Russland.
Zwei gute Nachrichten gab es schon früh aus Washington: weitere Flugabwehrsysteme für Kiew und eine unfallfreie Rede des US-Präsidenten Joe Biden. Tatsächlich, auch das ist dieser Tage für die NATO eine gute Nachricht. Und ein Hinweis darauf, wie groß und divers die Sorgen im Bündnis sind. Die dritte gute Nachricht konnte der scheidende Generalsekretär Jens Stoltenberg vermelden: Die NATO-Staaten einigen sich auf mehr und besser koordinierte Zusammenarbeit bei Rüstungsvorhaben. Bei der Beschaffung von Patriot-Munition vor einigen Monaten gelang das bereits: Mehrere Nutzerstaaten des Flugabwehrsystems fassten ihre Bedarfe zusammen und bestellten dann per NATO-Großauftrag gleich 1000 Flugkörper. Rüstungskonzern MBDA baut nun eine neue Produktionslinie in Deutschland auf.
Das mag einfach klingen. Doch solche Verfahren sind keineswegs gängige Praxis unter den Verbündeten Aber die Einsicht in die Notwendigkeit, auf Tempo und gute Preise zu setzen anstatt auf individuelle Wünsche und Einzelbestellungen, sickert tatsächlich in die Köpfe der westlichen Staatslenker ein. Auch wenn das manchmal auf Kosten der heimischen Rüstungsindustrie geschieht. In Washington will man auf diesem Feld nochmal ein ganzes Stück vorankommen.
Denn Geld wird in den kommenden Jahren eine noch zentralere Rolle spielen. Vom Ziel des burden sharing, der fairen Teilung aller Lasten zwischen den USA und der restlichen NATO, wollen sich die Amerikaner hinwenden zum burden shifting - einer Neu-Ausrichtung dieser Lasten. Gemeint ist damit: Die europäischen Partner sollen sich stärker für die europäischen Belange einsetzen. Damit die USA mehr Kapazitäten haben, sich auf die fragile Lage im Indopazifik zu konzentrieren. Oder ganz verkürzt: Unterstützt ihr Europäer die Ukraine besser, wir übernehmen China.
Die Pläne sind konkret gemeint
Schriftlich hinterlegt sind neue Zuständigkeiten bereits seit dem Gipfel letztes Jahr in Vilnius. Dort hat die NATO erstmals seit Ende des Kalten Krieges wieder konkrete Verteidigungspläne aufgesetzt, nach Regionen gebündelt. "Konkret" bedeutet in diesem Fall eine inhaltliche Zielsetzung: Einzelnen Mitgliedsländern sind Aufgaben zugeteilt. Und die müssen erfüllt werden. Das heißt für die einzelnen Staaten, dass sie ihren Verteidigungshaushalt nach diesen Belangen umbauen und letztlich in den meisten Fällen wohl aufstocken müssen.
Am Beispiel Bundeswehr: Ab 2025 soll sie 35.000 Soldatinnen und Soldaten zu den zwei NATO-Verbänden der höchsten Bereitschaftsstufe (very high readyness) beisteuern. Das heißt, sie müssen auch in ihrer Ausstattung den hohen Anforderungen dieser Verbände genügen. Und das kostet. Diese Pläne sind so konkret gemeint, wie sie sich anhören - darauf wird NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg pochen - zum letzten Mal übrigens. Ab Oktober ist dann sein Nachfolger Mark Rutte dafür verantwortlich.
So weit die Tagesordnungspunkte, die noch recht gut zu bearbeiten sind. Kommt es allerdings zu der Frage, wie die NATO ihre Haltung gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in konkrete Taten gießt, dann tun sich Konflikte auf. Da ist einerseits die Fraktion der Balten, unterstützt von Polen, Großbritannien und Frankreich. Diese Länder setzen vor allem auf robuste Abschreckung und möchten die Ukraine zum Beitrittsprozess in die NATO einladen. Auf der anderen Seite stehen die USA und Deutschland. Deren Augenmerk liegt viel stärker darauf, den Kreml nicht zu provozieren.
Eine konkrete Beitrittsperspektive für Kiew ist mit Washington und Berlin nicht zu machen. In den Augen der Befürworter verzichtet die NATO so auf die Möglichkeit, mehr Sicherheit in Europa zu schaffen. Man könnte sich über diesen Punkt umfangreich bis erbittert streiten, doch ist das in Washington dezidiert nicht gewollt. Oberstes Gebot ist: Der Laden darf nicht auseinanderfliegen.
Während Putin den Zusammenhalt der NATO von außen bedroht, fürchten viele, er könnte auch von innen bedroht werden: Noch fünf Monate bis zu den Präsidentschaftswahlen in den USA, die womöglich dem NATO-kritischen Donald Trump die Rückkehr ins Weiße Haus ebnen werden. Die Verbündeten fragen sich, wie sie die NATO schnell noch möglichst Trump-proof kriegen, Rabauken-resistent.
Auf stärkere Unabhängigkeit setzen, so lautet die einfachste Taktik. Doch auch die ist wieder mit Kosten verbunden. Schließlich stellen die USA derzeit die Hälfte der NATO-Fähigkeiten für Verteidigung, während die andere Hälfte von 31 Staaten gemeinsam geschultert wird. Dass eine solche Aufteilung nicht nachhaltig ist, hätte den Allianz-Mitgliedern auch ohne Trumps Drohgebärden schon auffallen können.
Was ist ein Riesenproblem und fängt mit "Zwei" an?
Doch als wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Ziel dieses Gipfels ist Einigkeit ausgegeben. Und darum kann man leicht raten, welches Thema der weiße Elefant im Raum ist, den die 32 Gipfelstaaten wohl noch anderthalb Tage lang großräumig umgehen werden: Er fängt mit "Zwei" an und hört mit "Prozent" auf.
Ringen sich die NATO-Verbündeten dazu durch, die Lasten breiter zu verteilen, könnte gleich die nächste Erkenntnis folgen: Mittelfristig wäre für den Wehretat wohl eine "3" vor dem Komma anzustreben.
Wie wahrscheinlich ist das? Man erinnere sich an den Zwang zur Einstimmigkeit. Das heißt, einen Beschluss, der die 2-Prozent-Klausel auch nur andeutungsweise anhebt, ist wohl auszuschließen. Experten, die mit den filigranen NATO-Prozessen vertraut sind, rechnen jedenfalls nicht damit. Dieses Fass werde in Washington nicht einmal geöffnet, glauben sie. Sollte sich irgendein Passus dazu entgegen der allgemeinen Erwartung in das Abschluss-Kommuniqué hineinschummeln, dann hieße das: Die NATO-Staaten haben in Washington wirklich etwas geschafft.
Quelle: ntv.de