Politik

Ausstieg vor 30 Jahren Wie Italien ohne Atomkraft auskommt

Windräder im süditalienischen Apulien. Die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien in Italien ist noch ausbaufähig.

Windräder im süditalienischen Apulien. Die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien in Italien ist noch ausbaufähig.

(Foto: picture alliance)

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat sich Italien von der Kernkraft verabschiedet, Erneuerbare Energien sind auf dem Vormarsch. Einen Haken gibt es zwar, Aufbruch jedoch auch.

Eigentlich wollte sich die italienische Regierung - anders als die in Wien, Paris oder Berlin - aus der europäischen Diskussion um Kernenergie heraushalten. Dann wäre das Thema wahrscheinlich schnell aus den Medien verschwunden. So lief es schon vor ein paar Monaten, als sich Roberto Cingolani, Minister für Digitalisierung und ökologische Wende, indirekt für eine Rückkehr zur Atomkraft ausgesprochen hatte.

Doch der Chef der rechtsnationalen Lega-Partei hat das Thema für sich entdeckt. Kein Tag vergeht, ohne dass Matteo Salvini vor Kameras oder auf Facebook sein nukleares Credo verkündet. Er fordert, dass Italien wieder in die Kernenergie einsteigt.

Angefacht wurde die Debatte in der Silvesternacht von der EU-Kommission, als diese ein Dokument veröffentlichte, das vorschlug, Atomkraft und Erdgas in die "Taxonomie" aufzunehmen, das europäische Klassifikationsschema der nachhaltigen Energiequellen. Endgültig entschieden wird am kommenden Dienstag. Um den Vorschlag aufzuhalten, müsste ein Nein aus 20 der 27 Mitgliedsstaaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung kommen - ein unwahrscheinliches Szenario.

Geht es ohne Atomkraftwerke? "Jein"

Unter den G7-Staaten, den sieben größten Industrienationen, ist Italien der einzige ohne eigene Atomkraftwerke. Bereits seit mehr als 30 Jahren produziert das Land keinen Atomstrom mehr. Das Abschalten der Reaktoren wurde 1987, anderthalb Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl, in einer Volksabstimmung beschlossen und bis 1990 umgesetzt. 2011 bestätigte ein weiteres Referendum das damalige Ergebnis.

Seitdem besteht Italiens Energieversorgung aus einem Mix aus Erdgas, Erdöl, Wasserkraft und anderen Erneuerbaren Energien. Zu einem Blackout, den Atomkraftbefürworter in Deutschland seit Jahren als drohendes Szenario an die Wand malen, kam es nur einmal. Das war am 28. September 2003, als um 03.37 Uhr im ganzen Land die Stromversorgung kollabierte. Einige, vornehmlich südliche Regionen blieben 24 Stunden ohne Elektrizität. Was den Stromausfall verursacht hatte, wurde nie einwandfrei geklärt. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass in der Schweiz ein Baum auf Stromleitungen fiel, die auch Italien versorgten, was eine Kettenreaktion auslöste.

Es geht also auch ohne AKWs, sagen Atomkraftgegner. "Ich würde mit einem 'Jein' antworten", antwortet dagegen Davide Tabarelli im Gespräch mit ntv.de auf eine entsprechende Frage. Er ist Professor im Fachbereich Bau-, Chemie-, Umwelt- und Werkstofftechnik an der Universität von Bologna, außerdem Kernkraft-Befürworter und Präsident von Nomisma Energia, einem Forschungsunternehmen im Bereich Energie und Umwelt. "Italien ist nie wirklich in die Kernkraft eingestiegen. Deswegen haben wir gelernt, ohne selbst produzierte Kernenergie auszukommen." 1986 habe es nur zwei funktionierende Reaktoren und einen sehr alten gegeben. Ein neuer war gerade im Bau.

Ohne Gasimporte ginge das Licht aus

Dass Italien ohne eigene Kernkraftwerke auskomme, bedeute nicht, "dass wir über ein effizienteres und nachhaltigeres Energiesystem verfügen", sagt Tabarelli. Denn anders als Deutschland, das mehr Strom aus- als einführt, ist Italien von Stromimporten abhängig. "Wir importieren an die 15 Prozent, vorwiegend aus Frankreich und demzufolge aus Kernkraft erzeugt", sagt Tabarelli. Und überhaupt, ohne die französischen Reaktoren und die anderswo in Europa säße der ganze Kontinent im Dunkeln, dessen ist sich der Professor sicher.

Italien ist aber nicht nur von Stromimporten abhängig. Wie aus einem Dokument des italienischen Wirtschaftsministeriums hervorgeht, ist das Land zu 75 Prozent auf die Einfuhr von Energiequellen angewiesen. Darunter ist Erdgas, das für Elektrizität, Industrie und Heizanlagen genutzt wird, der wichtigste Energieträger. Von den 2019 insgesamt verbrauchten 75,95 Milliarden Kubikmetern Erdgas kamen 7 Prozent aus nationaler Produktion, die restlichen 93 Prozent wurden importiert. "Und das macht uns nicht nur mit Blick auf die Versorgung unglaublich schwach", meint Tabarelli. Italien beziehe Erdgas zwar nicht nur aus Russland, sondern auch aus Algerien, Libyen, Aserbaidschan und sogar aus der Nordsee, "doch angesichts der geopolitischen Spannungen - sprich: Russland - könnten wir leicht zum Spielball werden", so Tabarelli.

Angelo Tartaglia, Physik-Professor an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften des Polytechnikums von Turin, hat einen anderen Blick auf das Thema. "Wir müssen weniger Energie verbrauchen", gibt er zuallererst zu bedenken, das ständige Wachstum des Energieverbrauchs sei "eine Chimäre". Dass die EU Kernkraft und Erdgas als nachhaltig einstufen will, hält er für anachronistisch, "genauso wie die Erwägungen des Ministers Cingolani, wieder nach Erdgas zu bohren. So würden wir wieder zurückfallen, anstatt uns vorwärtszubewegen."

Etwas bewegt sich doch

Italien verfügt in der Tat über, wenngleich bescheidene, Erdgasvorkommnisse in der Po-Ebene, in der Region Basilicata und in der Adria. Dabei handelt es sich um geschätzte 90 Milliarden Kubikmeter. Förderanlagen gibt es, sie liegen aber seit Langem still.

"Freilich können wir nicht von einem Tag auf den anderen alles, was CO2 ausstößt, abschalten", räumt Tartaglia ein. Aber deshalb müsse man ja auch nicht in alte Strukturen zurückfallen, noch dazu in einer Region wie der Po-Ebene, die zu den die verseuchtesten Europas zählt. "Italien hat in den letzten 15 Jahren enorme Fortschritte in der Erzeugung von Erneuerbaren Energien gemacht. Mittlerweile decken wir damit 9 Prozent des nationalen Bedarfs. Da müssen wir weitermachen, denn wir könnten leicht doppelt so viel erzeugen." (Die 9 Prozent sind Windenergie, Fotovoltaik, Energie aus Biomasse und Geothermie; rechnet man die Wasserkraft dazu, erreicht Italien einen Anteil von Erneuerbaren Energien von 25 Prozent.)

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Einen wichtigen Beitrag könnten die sogenannten Energy Communities leisten, also Gemeinschaften, die ihren Bedarf an Energie selber herstellen. Wobei Italien hier im europäischen Vergleich noch Nachholbedarf hat. Aktuell zählt man zwölf Energiegemeinschaften, alle liegen im Norden. Aber etwas bewegt sich doch. Von den 60 Milliarden Euro, die der Nationale Wiederaufbauplan für die Energiewende vorsieht, sind 23,78 Milliarden Euro für die erneuerbaren Energien bestimmt, davon wiederum 2,2 Milliarden Euro für Energiegemeinschaften. "Mitte Dezember ist außerdem das Gesetz zur Regelung der Gemeinschaften in Kraft getreten", fügt Tartaglia hinzu. In den nächsten fünf Jahren könnte die Zahl der Energiegemeinschaften auf 40.000 steigen und somit 1,2 Millionen Familien, 200.000 Büros und 10.000 kleinen und mittelgroßen Betrieben zugutekommen, liest man in einer Studie der Mailänder Fachhochschule Politecnico.

"Das muss unser Ziel sein", meint Tartaglia. Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Taxonomie ist für ihn nur "Greenwashing", die ökologische Verbrämung von nicht-nachhaltigen Energien. Tartaglia zitiert den berühmten Satz aus dem Buch "Der Leopard" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa: "Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern."

Quelle: ntv.de

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