"Wir sterben für Europas Ideale" Wie Selenskyj EU-Staatschefs zum Weinen brachte
28.02.2022, 17:54 Uhr
Die Sympathien in der Weltöffentlichkeit scheinen dieser Tage klar verteilt. Hier ein Plakat von einer Demo in London.
(Foto: imago images/ZUMA Wire)
Ukraines Präsident Selenskyj zeigt sich angesichts der russischen Invasion überraschend unerschrocken. Was bisher kaum jemand wusste: Mit einer Videoschalte in die entscheidende Konferenz brachte er die EU-Regierungschefs zum Handeln.
Es ist ein Filmdokument, das die Erinnerung an diesen Krieg auf Jahre prägen dürfte: 34 Sekunden lang und unterbelichtet, ein Selfie-Video, aufgenommen vor dem Präsidialamt von Kiew, Hauptstadt der Ukraine. Fünf Männer, eng beieinander stehend, schauen in die Kamera.
Es könnte ein gemeinsamer Innenstadtbummel sein - nach dem Fußballtraining, und jetzt schickt man dem Kumpel, der krank im Bett liegt und darum nicht dabei sein kann, noch Genesungswünsche.
Es ist: Die Botschaft eines Staatschefs an sein Volk, das sich im Krieg befindet, seit nicht einmal 48 Stunden. Übereinstimmende Einschätzung internationaler Beobachter zu den Chancen, diesen Krieg für sich zu entscheiden: Null.
"Allen einen guten Abend", sagt Wolodymyr Selenskyj, und dann stellt er fest, wer alles "hier ist": der Fraktionschef, der Chef der Präsidialverwaltung, der Ministerpräsident, der Chefberater - er schwenkt die Kamera nach links, damit der Chefberater nochmal schön im Bild ist - und er selbst, der Präsident. Sie alle seien hier, in Kiew, sagt Selenskyj, die Soldaten seien hier, die Bürger, und alle - ob Männer oder Frauen - würden gemeinsam ihre Unabhängigkeit verteidigen. "Slawa Ukrajini", verabschiedet sich die Gruppe mit einem patriotischen Gruß, "Ehre der Ukraine".
Die Ukraine steht zusammen - wie die Fünf im Bild
Wer sich fragt, wo die ukrainischen Männer und Frauen seit fünf Tagen den Mut hernehmen, ihr Land aus einer Position der Unterlegenheit heraus gegen feindliche russische Angreifer zu verteidigen, der findet eine der Antworten darauf in dieser halben Minuten Handy-Film.
Denn der ukrainische Präsident, von Hause aus Schauspieler, zeigt in diesen Tagen ein faszinierendes Gespür für das richtige Bild und den richtigen Ton: Ich bin bei euch, und wir stehen das alles gemeinsam durch - so ist seine Botschaft, ohne staatstragenden Pathos formuliert, sondern Nähe und Zusammenhalt zeigend. Die Ukraine steht zusammen - so wie wir Fünf hier im Bild.
Mit dieser Fähigkeit, aufs Wesentliche reduziertes Tacheles zu reden, hat Selenskyj offenbar nicht nur die ukrainische Bevölkerung in Kampfesbereitschaft versetzt, sondern, so die "Washington Post", er hat es sogar geschafft, die Europäische Union in Bewegung zu bringen.
Als die Staatschefs der Mitgliedsländer am Donnerstag in Brüssel zusammensaßen, um Sanktionen gegen Russland zu diskutieren, war die große Runde drauf und dran, sich zum wiederholten Mal zwischen Bereitschaft zum Handeln und Bedenkenträgerei in der Debatte zu verfangen. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hatte sich noch auf dem Weg zur Sitzung für weitreichende Sanktionen ausgesprochen. Aber ein Rausschmiss aus dem Zahlungssystem Swift - nach Aussagen internationaler Wirtschaftsexperten eines der schärfsten Schwerter, die man bei Wirtschaftssanktionen führen kann - kam für ihn nicht in Frage. Ähnlich sahen es, nach Aussagen von EU-Beamten, die Regierungschefs von Österreich, Italien und Zypern.
Als die EU-Runde bereits Sanktionen gegen Russlands Machthaber Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow und große russische Banken beschlossen hat, vor der Swift-Entscheidung aber Halt macht, folgt: Auftritt Selenskyj. Per Telefonkonferenz lässt er sich in den Sitzungssaal schalten und braucht runde fünf Minuten, um den anwesenden Entscheiderinnen und Entscheidern klar zu machen: Schaut her, wir sterben gerade für die europäischen Ideale. So fasst ein EU-Beamter die Aussage Selenskyjs später zusammen. Der Präsident der Ukraine habe den Regierungschefs klar gemacht, was sein Land jetzt brauche: eine ehrliche Prüfung ihrer Ambitionen, der EU beizutreten, nebst Nahrung, Munition, Sprit und Sanktionen. Zum Abschied der Hinweis, der Videocall könne die letzte Gelegenheit gewesen sein, wo man ihn, Selenskyj nochmal lebend gesehen habe.
"Es war ein sehr, sehr emotionaler Moment", zitiert die '"Washington Post" den EU-Beamten, mehreren Staatschefs seien die Tränen gekommen. In den folgenden Stunden beschloss die Europäische Union ein Paket von Sanktionen, das nach Expertenmeinung eine nie dagewesene Härte gegenüber der russischen Wirtschaft markiert.
Am Samstag gaben die EU, die USA, Kanada und Großbritannien ihre Entscheidung bekannt, russische Banken von Swift auszuschließen.
Heute meldete sich Selenskyj mit dem Aufruf an gefangene russische Soldaten zu Wort, Putins Truppe zu verlassen und auf Seiten der Ukraine mitzukämpfen. Ein Appell, der realitätsfremd erscheint. Aber mit dem, was Selenskyj in den vergangenen fünf Tagen in Gang gesetzt hat, wäre es voreilig, zu sagen: Das schafft der nie.
Quelle: ntv.de