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Kriegsgefangene bereuen Einsatz "Wir realisieren, dass wir nicht die Guten sind"

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Diese Männer sind im April durch einen Gefangenenaustausch in ihre russische Heimat zurückgekehrt.

Diese Männer sind im April durch einen Gefangenenaustausch in ihre russische Heimat zurückgekehrt.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Bei ihrer Gegenoffensive nehmen ukrainische Truppen viele russische Soldaten fest. In einem Bericht bestätigen diese Gerüchte über russische Sperrtrupps und andere unmenschliche Praktiken der russischen Militärführung. Einen Gefangenenaustausch wollen sie vermeiden - aus Angst vor ihren Landsleuten.

Zwei Tage lang war alles ruhig, dann begann plötzlich der Angriff bei Welyka Nowosilka - einer kleinen Stadt, die knapp 100 Kilometer südwestlich von Donezk in der Ostukraine liegt. "Es war chaotisch", erzählt Anatoli. "Überall wurde geschossen, jeder ist losgerannt. Ich habe versucht, im Feld vor uns den Feind zu finden, konnte aber niemanden erkennen. Ein paar Minuten später haben Ukrainer unsere Position gestürmt und Granaten in unseren Graben geworfen. Ich bin aufgestanden und habe 'Ich gebe auf! Ich gebe auf!' gerufen."

Fünf andere Männer in dem Graben sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Unter ihnen auch sein guter Freund Georgi, wie Anatoli ausführt. Er hat für die russische Armee in der Ukraine gekämpft und wurde vor wenigen Tagen von ukrainischen Einheiten festgenommen. Im "Wall Street Journal" berichten er und andere Kriegsgefangene von ihren Erlebnissen. Journalisten der US-Zeitung haben sie in einem temporären Kriegsgefangenenlager in der ukrainischen Stadt Kramatorsk unweit der Front besucht. Die Reporter sprechen von einem beständigen Strom neuer Gefangener, die dort täglich ankommen.

Unterschiedliche Herkunft, ähnliche Berichte

Nach Angaben des "Wall Street Journals" befinden sich unter den Gefangenen sowohl reguläre Soldaten der russischen Armee als auch Wehrpflichtige und Söldner. Viele von ihnen gehören demnach russischen Minderheiten aus Sibirien an. Unter ihnen sind aber auch Einwohner der russischen Ostsee-Metropole St. Petersburg und der Großstadt Wladiwostok auf der anderen Seite des Landes am Pazifik.

So unterschiedlich die Herkunft der Männer, so ähnlich sind ihre Angaben: Die Moral der russischen Truppen beschreiben sie als schlecht, ihr eigenes Leben als offenbar entbehrlich und sich selbst als Opfer der russischen Propaganda.

"Uns wurde erzählt, dass die Ukraine schlecht ist. Die Leute hier sollen alle Nazis sein. Das haben wir überall gehört", erzählt Anatoli, der als Bauarbeiter im südlichen Sibirien gearbeitet hatte, bevor er sich bei der russischen Armee freiwillig für den Einsatz im Nachbarland meldete. Das hätten viele Freunde und Bekannte gemacht.

"Sie erschießen uns!"

Auch Anton ist freiwillig in den Krieg gezogen, wie er berichtet. Anders als Anatoli gehörte er allerdings der paramilitärischen Einheit "Sturm Z" an, die vor allem aus Häftlingen besteht: Anton wurde im Gefängnis für den Krieg rekrutiert und mit Aussicht auf Begnadigung gelockt, wenn er sechs Monate in der Ukraine kämpft. Der frühere Soldat saß wegen Drogenhandels in Haft.

Dass Anton jemals als freier Mann nach Russland hätte zurückkehren können, darf seinen Angaben zufolge bezweifelt werden. Bereits mit März wurde er demnach so schwer von Schrapnellen an Gliedmaßen und seinem Kopf verletzt, dass er von einem Arzt für dienstuntauglich befunden wurde. Sein Kommandeur habe ihn und andere verwundete Kämpfer dennoch zurück an die Front geschickt, erzählt er im "Wall Street Journal".

Auch der taktische Rückzug soll ihnen von ihren Befehlshabern untersagt worden sein: In ihrem Rücken hätten sogenannte Sperrtrupps mit Schießbefehl gewartet. Nachdem er bei Welyka Nowosilka von ukrainischen Kugeln zuerst im Bein und dann im Arm getroffen wurde, gab Anton trotzdem auf. "Wenn wir zurückgehen, erschießen sie uns!", will er den ukrainischen Einheiten zugerufen haben. In Gefangenschaft beginnt er nach eigenen Angaben nun zu realisieren, "dass wir in diesem Krieg nicht auf der guten Seite stehen."

"Es ist niemand gekommen"

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Auch das Leben des wehrpflichtigen Dmitri aus dem Fernen Osten Russlands scheint seinen Befehlshabern nicht sehr viel bedeutet zu haben. Seine Einheit, die südlich von Welyka Nowosilka stationiert war, beschreibt er als schlecht ausgebildet und ausgerüstet. Er habe nur ein kurzes Waffen- und Erste-Hilfe-Training erhalten, bevor er an die Front geschickt geworden sei. Dort angekommen, hätten Mannschaften für Panzer und anderes schweres Gerät gefehlt. Und auch seine Ablösung: "Wir haben irgendwann in unseren Unterlagen festgestellt, dass wir schon vor einem Monat abgelöst werden sollten. Aber es ist niemand gekommen."

Die meisten der russischen Kriegsgefangenen sollen nicht lange in der Ukraine bleiben. Das ukrainische Militär will sie zeitnah gegen eigene Truppen, die sich in russischer Gefangenschaft befinden, austauschen. Das wollen Kämpfer wie Dmitri verhindern, wenn sie können: Sie fürchten, dass russische Sicherheitskräfte wie der Inlandsgeheimdienst FSB sie bestrafen oder umbringen könnten, wenn sie lebend aus der Ukraine zurückkommen.

Quelle: ntv.de, chr

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