Interview mit Oberst Reisner Woher Begriffe wie "Fleischwolf" und "Blutmühle" kommen
16.05.2023, 07:19 Uhr
Soldaten sind im Schützengraben oft täglich Artilleriefeuer ausgesetzt - ein Horror, der nur schwer vorstellbar ist.
(Foto: REUTERS)
Was genau im Krieg passiert, ist nur schwer vorstellbar. Die grausame Art und Weise, wie Menschen sterben, machen deshalb oft erst Wörter wie "Kanonenfutter" greifbar. Die Begriffe stammen aus vergangenen Schlachten, erklärt Oberst Markus Reisner. Sie mögen brutal klingen, erfüllen einen wichtigen Zweck: Versuchen wir nämlich die Augen vor der Realität und dem Leid des Krieges zu schließen, schadet das vor allem der Ukraine, so der Militärexperte im Interview mit ntv.de.
ntv.de: In 15 Monaten Kriegsberichterstattung fallen immer wieder Begriffe wie "Fleischwolf" oder "Kanonenfutter", die eine gewaltsame Kriegstaktik beschreiben. Woher kommen solche Ausdrücke?

Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons.
(Foto: Screenshot)
Markus Reisner: Die Kriegsgeschichte ist voller Ereignisse, die zu solchen Begriffen geführt haben und die es auch heute noch gibt. Nehmen wir als Beispiel das Wort "Fleischwolf". Das stammt von General Erich von Falkenhayn, der im Ersten Weltkrieg Chef des deutschen Generalstabs war. In der Schlacht um Verdun in Frankreich wusste er, dass die Stadt für die Franzosen bedeutungsvoll ist - ähnlich symbolisch wie heute Bachmut für die Ukrainer. Seine Taktik war deshalb, die französischen Soldaten in den Frontabschnitt hineinzuzwingen, um sie dort mit Artillerie vernichten zu können. Das nannte er den "Fleischwolf" oder die "Knochenmühle". Anfangs hat es auch funktioniert, bis die Deutschen auf Druck des Kaisers selbst immer wieder in den Angriff gegangen sind, sodass sich am Ende beide Seiten in diesem Fleischwolf befanden. So wie wir es auch in Bachmut sehen.
Und "Kanonenfutter"?
Der Begriff kommt aus dem 19. Jahrhundert, als Kanonen eine immer wichtigere Rolle spielten. Die haben nicht nur Kugeln verschossen, sondern auch Kartätschen. Das ist ein Artilleriegeschoss mit Schrotladung, also Munition, die aus vielen kleinen Nägeln oder Schrapnellen besteht. Wenn eine Linie Infanterie-Soldaten einen Hügel hochmarschiert ist, standen oben die Kanonen und haben sie niedergemäht. Deshalb sprach man von Kanonenfutter.
Gibt es noch andere Begriffe?
Ja, zum Beispiel die sogenannte "Blut-" oder "Knochenmühle". Das hat einen sehr brutalen Hintergrund. Nach einem Artillerieangriff wird der menschliche Körper zerfetzt und zu einem Gemisch aus Steinen, Erde, Fleisch, Knochen und Blut vermischt. Ein solcher Anblick führt dazu, dass es diese Begriffe gibt.
Manchen Leserinnen und Lesern bereitet diese bildliche Sprache möglicherweise Unbehagen. Können Sie das nachvollziehen?
Das ist absolut verständlich. Es ist auch für mich bedrückend, über diese Wörter zu sprechen. Das sind Dinge, die wir eigentlich nicht mehr für möglich gehalten haben. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir durch die internationale Ordnung, die UN-Charta und durch das humanitäre Völkerrecht versucht, Regeln zu etablieren, nach denen definiert ist, wann ein Krieg überhaupt geführt werden darf. Sogar der Begriff Krieg wurde verboten, es soll eigentlich Konflikt heißen. Wenn dann aber doch mal ein Konflikt entsteht, welche Regeln gelten dann, wie behandle ich den anderen? Dafür wurden Grundsätze verabschiedet, wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, des Unterscheidens zwischen Zivilisten und Soldaten oder der allgemeinen Menschlichkeit. Also jemandem Gnade zu geben, der sich ergeben möchte.
Und diese Grundsätze fallen im Krieg in der Ukraine weg?
Zum Großteil schon. Natürlich hat es auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder Kriege gegeben, beispielsweise in Korea oder Vietnam. Aber es gab eine Art Gleichgewicht des Schreckens zwischen Ost und West und man konnte sich immer wieder auf gewisse Grenzen einigen. Im Ukraine-Krieg scheint es, als sei diese internationale Rechtsordnung nicht mehr gültig. Das ist auch die Frage, die wir uns immer wieder stellen müssen: Akzeptieren wir, dass Russland plötzlich diese Rechtsordnung mit Füßen tritt, nehmen wir das einfach hin? Da dieser Krieg nicht nach den ersten Wochen und Monaten entschieden wurde, findet ein Abnutzungskrieg statt, was bedeutet, dass Waffensysteme ihre Wirkung in einer Schrecklichkeit entfalten, wie wir sie nicht mehr für möglich gehalten haben. Darum haben wir jetzt diese Bilder, die an Verdun 1916 und an die Isonzoschlacht von 1917 erinnern.
Helfen solche Kriegsbegriffe dabei, eine realistische Darstellung davon zu bekommen, wie brutal dieser Krieg ist oder sollten Medien in ihrer Berichterstattung eher darauf verzichten?
Die Frage ist ja, wie man das Schreckliche greifbar machen kann. Solche Wörter können helfen, die Lage vor Ort besser zu vermitteln. "Kanonenfutter" oder "Fleischwolf" sind viel drastischere Begriffe, als zu sagen, dass Soldaten eingekesselt und mit Artillerie beschossen werden. Das klingt sehr klinisch und militärfachlich, aber es verdeutlicht nicht mal ansatzweise, was das bedeutet. Jedes Wort beschreibt unglaubliches menschliches Leid. Wenn eine Rakete einschlägt, dann sterben Zivilisten und Kinder. Wenn Soldaten im Schützengraben sitzen und unter Artilleriebeschuss stehen, sprechen wir von bis zu 60.000 bis 80.000 Artilleriegranaten von russischer und von 20.000 von ukrainischer Seite pro Tag. Was bedeutet das, wenn die alle einschlagen? Wie ist es dann, im Schützengraben im Schlamm zu stehen? Die Moral der Ukrainer ist zwar hoch, aber jedem, der einmal mehrere Tage Artilleriefeuer erlebt hat, geht sie trotz höchster Motivation irgendwann verloren. Die Soldaten müssen dann ausgewechselt werden, sonst drehen sie völlig durch. Es ist einfach nicht auszuhalten. Das kennen wir alles aus der Vergangenheit. Nur haben wir es wieder vergessen.
Sie glauben also, dass wir uns die Situation schönreden?
Wir denken uns, die Ukrainer schaffen das schon, die haben mit der Panzerfaust in der Hand die Russen aufgehalten. Die Russen haben zwar schwere Fehler gemacht, aber sie sind erst dann am Ende, wenn sie am Ende sind. Bis dahin sind sie gefährlich. Die russische Geschichte ist voller Beispiele, wie die Russen oder die Sowjetbürger in Situationen plötzlich eine Energie entwickelt haben, die unvorstellbar war. Das ist das Problem: Die Ukraine braucht Hilfe, um dieses Land wieder zurückzuerobern. Die Diskussion darüber, ob F-16 Kampfjets geliefert werden sollen oder nicht, ist gegen jede militärische Logik. Wenn die Ukraine keine Kampfflugzeuge hat, mit der sie den Luftraum über dem eigenen Angriffsgebiet sichern kann, haben sie schwerste Verluste zu erwarten.
Was passiert, wenn die Ukraine diese Unterstützung nicht bekommt?
Wie Präsident Selenskyj vor wenigen Tagen gesagt hat: Russische Truppen jetzt anzugreifen, würde sehr blutig werden, vielleicht sollten wir warten, bis wir alles haben. Ein Teil der Aussage ist sicher der Versuch, Verwirrung bei den Russen zu stiften, aber andererseits auch dem Westen klarzumachen: Schaut her, uns fehlen doch noch einige Dinge. Trotzdem liefern wir nicht. Wir müssen deshalb realistisch und objektiv die Situation erklären und nicht behaupten, die Ukraine schaffe das mit ihrer Moral. Das ist ein Fehler und schadet der Ukraine nur.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de