Es ist nicht "nur" der Anschlag Erdoğans bislang größte Niederlage
21.07.2015, 12:20 Uhr
September 2014: Noch als Präsident verteidigt Erdogan seine Syrien-Strategie vor der UN-Vollversammlung.
(Foto: REUTERS)
Erdoğans Umgang mit dem IS rächt sich: Dass der Terror der Islamisten mit dem Anschlag in Suruç jetzt auch die Türkei erreicht, ist eine besonders blutige Folge eines gewaltigen strategischen Flops. Es ist aber nicht die einzige Folge.
Der verheerende Anschlag auf das Kulturzentrum in Suruç macht das Scheitern von Recep Tayyip Erdoğans IS-Politik in all seiner Dramatik deutlich. Erdoğan ließ die Islamisten viel zu lange ungehindert die Grenze zwischen Syrien und der Türkei überqueren. Verletzte Kämpfer konnten sich in türkischen Krankenhäusern aufpeppeln lassen, Anhänger islamistischer Gruppen konnten Munition und Waffen an die Halsabschneider und andere radikale Organisationen liefern.
Erdoğan hatte zwei Gründe dafür, die Radikalen gewähren zu lassen: Erstens wollte er den Sturz des syrischen Machthabers Baschar al Assad. Und er glaubte, dass die Islamisten diesen herbeiführen könnten. Zweitens wollte er um jeden Preis verhindern, dass im türkisch-syrischen Grenzgebiet ein unabhängiger Kurdenstaat entsteht. Deswegen ließ er Islamisten passieren, versperrte im vergangenen Jahr aber allen, die Waffen, Lebensmittel oder Medikamente in die damals so heftig umkämpfte Stadt Kobane bringen wollten, den Weg. Um einen Kurdenstaat zu verhindern, war Erdoğan bereit, in Kauf zu nehmen, dass an der türkischen Grenze ein radikalislamisches Kalifat entsteht.
Schlechter hätte die Sache für Erdoğan kaum laufen können
Heute zeigt sich: Die Strategie scheiterte auf ganzer Linie. Dem Sturz Assads ist die Türkei kein Deut näher - im Gegenteil. Weil eine US-geführte Koalition Stellungen der Islamisten mit Luftschlägen angreift, ist Assad vielerorts entlastet. Die zurückgewonnenen militärischen Kapazitäten nutzt er, um verschärft gegen die Regimegegner rund um die Freie Syrische Armee (FSA) vorzugehen. Der Aufbau eines kurdischen Staates im Grenzgebiet ist zugleich weiterhin eine Möglichkeit. Kurdenkämpfer der YPG und YPJ konnten auch dank der Hilfe der irakischen Peschmerga und internationaler Luftunterstützung trotz Ankaras Schikanen nicht nur Kobane befreien. Sie kontrollieren auch zwei weitere Areale im Grenzgebiet - eines im äußersten Westen, das andere im äußersten Osten Syriens. Und die Kurden haben den Traum, diese Gebiete eines Tages zu verbinden, nicht aufgegeben.
Als wäre das nicht schon Niederlage genug für Erdoğan, hat seine Politik zu heftigen innenpolitischen Verwerfungen beigetragen. Dass die kurdische HDP erstmals in ihrer Geschichte bei den Parlamentswahlen die Zehn-Prozent-Hürde überwinden konnte, liegt nicht nur, aber auch daran, dass Erdoğan viele Kurden in der Türkei verprellt hat. Seine Pläne für eine "Neue Türkei" mit ihm als allmächtigen Präsidenten kann Erdoğan jetzt vergessen.
Erdoğan und seine AK-Partei lösen sich angesichts dieses Dilemmas mittlerweile zusehends von ihrer stillschweigenden Kooperation mit dem IS und gehen verstärkt gegen die Islamisten vor. Der gewaltige internationale Druck befördert diesen Prozess weiter. Doch - und das macht der Anschlag in Suruç nun besonders deutlich - gewinnt Erdoğan auch durch diesen unausweichlichen Kurswechsel nichts zurück. Weil er und seine AKP jetzt verstärkt gegen den IS vorgehen, gibt es für die Islamisten keinen Grund mehr, die Türkei vor ihrem Terror zu schonen. Schlechter hätte die Sache für Erdoğan kaum laufen können.
Quelle: ntv.de