Eklat im Weißen Haus Hätte Selenskyj die Situation noch retten können?


Der ukrainische Präsident sah schwach aus in Washington, schimpfen manche: Hände unter den Achseln, nicht richtig angezogen, das musste ja schiefgehen! Stimmt das?
Deutschland ist in Sachen Mode die Nation der Schöffel-Funktionsjacken, insofern ist es ein Lichtblick, dass das ganze Land jetzt über die Frage debattiert, ob man in Washington einen Anzug tragen muss oder ob es auch die olivgrüne Armeekleidung tut.
Neben der Kleidungsfrage debattiert der ganze Globus gerade, ob der Ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj in Washington in eine Falle gelockt wurde, ob er selbst sich einen Patzer geleistet habe oder, auch das gibt es, er womöglich einen heimlichen Sieg davon getragen hat.
Was wirklich an jenem 28. Februar 2025 in Washington passiert ist, lässt sich gar nicht so leicht sagen: Rechte und linke Stimmen überbieten sich darin, das Ereignis in immer neue Zusammenhänge zu quetschen, um die eigene Erzählung zu stärken. Es ist das Kippbild von Washington: Je nachdem, wie man es betrachtet, verschiebt sich die Schuld am Debakel.
Erste Erzählung: Attacke auf Selenskyj
Eine Erzählung geht so: Selenskyj wurde aus dem Nichts heraus von Donald Trump und seinem Vize J.D. Vance attackiert. Ein – womöglich entsprechend gebriefter – Journalist, Brian Glenn, fragt den Ukrainer, ob er nicht auch einen Anzug habe. Der (rechte) Reporter greift damit wohl kaum zufällig auf, was Trump Selenskyj schon zur Begrüßung entgegenpampte: "Na, haben Sie sich schick gemacht?"
Der Fall ist klar: ein abgekartetes Spiel! Nach diesen Provokationen blaffen Vance und Trump den Präsidenten der Ukraine wechselweise an, der Vize-Präsident fragt, ob Selenskyj sich schon einmal bedankt habe, und so weiter.
Zweite Erzählung: Selenskyj hat provoziert
Die zweite Erzählung geht anders: Es ist die Erzählung von rechten und rechtsextremen Stimmen um den ganzen Globus herum. Sie geht so: Selenskyj habe es gar nicht anders verdient, die (linke, woke) Öffentlichkeit sei bloß zu doof, um die ganze Pressekonferenz anzusehen. Schaue man sich den ganzen Clip von etwa 40 Minuten an, liege der Fall sonnenklar: Schuld habe der Ukrainer, Selenskyj selbst.
Diese zweite Erzählung wirkt aus subtilen Grünen plausibel: Seit vielen Jahren erzählen uns Experten, dass man im Internet praktisch permanent in die Irre geführt wird. Insofern glauben viele Menschen gern, dass der kleine Selenskyj-Ausschnitt die Unwahrheit zeigt, der längere die Wirklichkeit. Tatsächlich sitzt Selenskyj immer wieder in unvorteilhafter Körpersprache auf seinem Stuhl, die Hände unter die Achseln geklemmt, trotzig.
Doch auch die zweite Erzählung ist eine Geistesmanipulation: Die Attacke auf Selenskyj begann deutlich früher. Washington hat sich entschlossen, aus dem Kamingespräch mehr zu machen als einen reinen Fotografentermin. Eigentlich sollen hier nur Bilder entstehen, die das Fernsehen stets so dringend braucht. Die eigentlichen Gespräche finden hinter verschlossenen Türen statt.
Vermeintlich transparent
So war es bisher, aber das Team Trump änderte die Regeln. Es kann damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Es zeigt vermeintliche Transparenz, "das Volk", vielmehr die Weltöffentlichkeit, soll bei allen Gesprächen dabei sein. Populisten lieben so etwas, weil sie von repräsentativer Demokratie und schwierigen Kompromissen wenig halten.
Zugleich bekamen Trump und Vance die Möglichkeit, sich an Selenskyj abzuarbeiten. Unabhängig davon, ob sie den eigentlich vereinbarten Rohstoff-Deal schließen wollten oder nicht, ist das etwas, was die Zustimmungsraten hochschnellen lässt.
Dritte Erzählung: Selenskyj war schlecht vorbereitet
Die dritte, vermittelnde Erzählung geht so: Es möge ja eine Falle gewesen sein, aber Wolodimir Selenskyj habe sich auch nicht gut vorbereitet. Und richtig: Er wirkte verkrampft, unbeherrscht und musste sich mit seinem mäßigen Englisch durchschlagen. Eigentlich beherrscht der frühere Comedian Kommunikation wie kaum ein anderer. Hätte er sich nicht besser vorbereiten müssen?
Vorwerfen kann man ihm jedenfalls nicht das Outfit. Der Ukrainer kleidet sich so, wie viele Männer sich in der Ukraine gerade kleiden. Er ist einer von ihnen und visualisiert den Kriegszustand.
Viele verweisen auf ein Bild von Winston Churchill, einen anderen Superkommunikator der Weltgeschichte, der in Zeiten des Zweiten Weltkriegs ebenfalls mit einem militärisch anmutenden Outfit herumlief. Es war ein "Sirenen-Anzug", also ein Overall, den man sich bei Luftalarm schnell über den Pyjama ziehen konnte, ein Prinzip, das sich Churchill bei Arbeitern abgeschaut haben soll.
Zum Selbstverrat getrieben
Und die Körpersprache? Die unter die Achseln geklemmten Hände? Körpersprache entgleist schnell, wenn man sich der eigenen kommunikativen Rolle nicht mehr sicher ist. Das könnte der Kern des Problems sein: Der avisierte Rohstoff-Deal hätte den Vereinigten Staaten Zugang zu wertvollen Rohstoffen gewährt. Aber eine Sicherheitsgarantie sollte die Ukraine nicht erhalten.
Selenskyj sollte sich also darauf verlassen, dass Wladimir Putin sich auf einmal wieder an Abreden hält. Er wusste, dass er das nicht konnte und dass ihm das zu Hause auch niemand nachsehen könnte. Das ist der Kern vom Kern des Desasters: Selenskyj sollte "Ja" sagen, obwohl jede Faser in ihm "Nein" schrie. Die Situation eskalierte, nachdem Selenskyj Trump und Vance fragte, was sie eigentlich mit "Diplomatie" meinen, wenn Putin sich nicht an Abreden hielte. Vance reagierte draufhin aggressiv, zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf den ukrainischen Präsidenten wie auf einen ungezogenen Schüler.
Kommunikation entgleist nicht allein deshalb, weil jemand vergessen hat, die Hände nicht unter die Achseln zu stecken. Kommunikation entgleist, wenn ein Sprecher zum Selbstverrat getrieben wird.
Unverstellt, in Olivgrün
Dieser Mechanismus ist zutiefst menschlich: Ein Vorstand kann ein phantastischer Redner sein, aber wenn er vom Marketing ersponnene Märchen erzählen soll, gerät er ins Stammeln, wird tonlos oder macht fahrige Gesten. Deshalb ist es so falsch, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit für Kommunikation und Anzüge als oberflächlich abgetan wird.
Es bleibt dann die Frage: Warum begibt sich Selenskyj dennoch in diese Situation? Vermutlich, weil ein Teil in ihm weiß, dass er die Vereinigten Staaten bei Laune halten muss und eine Absage noch schlechter ausgesehen hätte.
Vielleicht blickt Selenskyj auch noch ein bisschen weiter in die Zukunft. Kurz nach dem Eklat stand der Ukrainer händeschüttelnd neben King Charles – natürlich in Olivgrün. Verstellen musste er sich dort nicht.
Quelle: ntv.de