Am Mythos-Berg der Tour Das kleine Radsportwunder des Chris Froome
15.07.2022, 09:39 Uhr
Chris Froome kämpft sich nach Alpe d’Huez hinauf.
(Foto: dpa)
Chris Froome war einmal der gnadenlose Herrscher der Tour de France. Doch diese Zeiten sind längst vorbei, ein Horrorsturz im Jahr 2019 hat ihn nah an das Karriereende getrieben. Doch Froome wollte so nicht aufhören, kämpfte gegen Mitleid und sich selbst - und ist nun eindrucksvoll zurück.
Ein Mann für die Kameras ist Chris Froome schon lange nicht mehr. Der 37-Jährige, der den Radsport zwischen den Jahren 2011 und 2017 dominiert hat, mit vier Erfolgen bei der Tour de France, zwei Siegen bei der Vuelta sowie einem Triumph beim Giro d'Italia, ist ein Mitfahrer im Feld geworden. Immer noch gut an seinem Fahrstil zu erkennen, der so sonderbar ist, aber einst so gnadenlos war. Dominante Vergangenheit, die Gegenwart sieht anders aus. Grau. Die Hauptrollen im Radsport sind längst neu vergeben, bei der Tour de France 2022 besetzen sie Fahrer wie Tadej Pogacar, Jonas Vingegaard, Primoz Roglic, Lennard Kämna oder aber Simon Geschke.
Sie erzählen die großen Geschichten. Von eingebrochenen Helden (Pogacar). Von neuen Helden (Vingegaard). Von gestürzten Helden (Roglic). Von Helden ohne Krone (Kämna). Und von furios kämpfenden und leidenden Helden (Geschke). Einen Platz in dieser Liste findet Froome nicht (mehr). Bis zu jenem Tag, der das Feld nach Alpe d'Huez hinaufführte. Diese 21 magischen Kehren, in denen sich die Tour so oft entschieden hat. Kein Weg im Radsport ist mystischer als jener von Le Bourg d'Oisans ins Skigebiet. Der Anstieg ist nicht der steilste, nicht der höchste und auch nicht der längste, den das Programm der Rundfahrt umfasst. Aber der legendärste.
Die kleinen großen Siege
Alpe d'Huez ist für die Fahrer Party, Rausch und Kater in einem. Unvergessen sind die Bilder von Marco Pantani, der diesen Berg einst hinaufflog. 1995 donnerte er in 36:50 Minuten über die 13,8 Kilometer hinweg. Niemand war je schneller. Auch nicht Lance Armstrong. Der unersättliche Amerikaner. Sein spektakulärster Moment: der große Bluff von 2001. Bis zur Einfahrt in den Berg gab er vor, einen schlechten Tag zu haben. Ein Schauspiel mit gnadenloser Pointe. Am Fuß des Anstiegs ließ er seinen Helfer José Luis Rubiera ein hohes Tempo fahren, drehte sich noch einmal zu seinem Kontrahenten Jan Ullrich um - und fuhr davon. "The Look" ist Legende.
Froome war ein anderer Typ. Nicht so spektakulär wie der italienische Pirat. Nicht so einschüchternd wie der besessene Amerikaner. Aber genauso zermürbend (und im Zwielicht des Dopings) wie die Beiden. Geschichte. Die großen Erfolge für den Briten definieren sich mittlerweile anders. Kleiner. Mit einem dritten Platz in Alpe d'Huez etwa. "Ich kann sehr zufrieden sein, wie ich heute gefahren bin", befand Froome. "Ich habe mich von ziemlich weit unten wieder hochgekämpft und ich kämpfe weiter, zu der Form zurückzufinden, die ich einmal hatte", sagte der 37-Jährige. Ein nächster großer Schritt auf dem Weg zurück in den Kreis der Elite. Ein nächster großer Schritt nach dem Horrorcrash, der seine Karriere ganz nah an ein tragisches Ende gedrückt hatte.
Eine fatale Unaufmerksamkeit
Im Sommer 2019 war Froome mit 54 Kilometern pro Stunde gegen eine Hauswand geknallt. Er wollte sich in einer Abfahrt die Nase putzen, nahm eine Hand vom Lenker, eine Windböe erfasste sein Vorderrad - dann der Unfall. Er brach sich einen Oberschenkel, die Hüfte, einen Ellenbogen und mehrere Rippen. Im Krankenhaus musste er acht Stunden operiert werden. Für den Briten änderte sich alles. Doch aufgeben wollte er nicht, er kämpfte sich zurück. Wechselte das Team, wechselte von Sky (nun Ineos) zu Israel-Premier Tech. Und jagt immer noch den Traum, den er sich eigentlich 2019 erfüllen wollte, ehe er seinen Radlenker für eine fatale Sekunde losließ.
Froome will die Tour de France zum fünften Mal gewinnen."Es wird nicht dieses Jahr passieren, aber ich träume immer noch davon", sagte er vergangene Woche. Schon da war er chancenlos. In der Gesamtwertung liegt er nach zwölf Etappen auf Rang 29, hat bereits 54:16 Minuten Rückstand auf den Vingegaard, auf den Mann in Gelb.
Warum tut er sich das noch an?
Aus dem Mann mit den präzisen Attacken ist ein Mann geworden, den manche mitleidig betrachten. Der bei der Tour 2022 Bilder der Erschöpfung lieferte, die die Frage nach seiner Konkurrenzfähigkeit aufwarfen. Warum tut er sich das noch an? Weil er wie so viele große Champions besessen ist. Realismus spielt in dieser Welt keine tragende Rolle. Die Sehnsucht, es allen nochmal zu zeigen, frisst alles andere. "In den vergangenen drei Jahren bin ich nach meinem schrecklichen Sturz wieder zurückgekommen. Ich wollte meine Karriere nicht so enden lassen", sagte Froome vor seinem kleinen Wunder: "Das ist es, was mich jeden Morgen aus dem Bett treibt."
An diesem Donnerstag hat er allen Abgesängen getrotzt. Hat jedes Mitleid kassiert. Fuhr mutig und offensiv. Konnte seinen Kontrahenten Thomas Pidcock (Etappensieger) und Louis Meintjes am Ende aber nicht mehr folgen. Es reichte für Platz drei. Vielleicht noch wichtiger als ein möglicher Sieg war aber die Bewunderung für die kleine Wiederauferstehung von Froome. Pidcock, der bereits als Nachfolger des 37-Jährigen und damit als künftiger Tour-Champion gesehen wird, lobte die Leistung seines britischen Kollegen. "Er ist eine Legende", sagte der Mountainbike-Olympiasieger. "Er ist vielleicht nicht mehr so schnell wie früher, aber er ist immer noch ein Großer." Zum ersten Mal seit seinem Sturz war in einem Rennen mal wieder unter die besten zehn gefahren. Am Berg der Legenden. Einen besseren Ort, um wieder ein Mann für die Kameras zu werden, hätte er sich nicht aussuchen können.
Quelle: ntv.de