Sport

Rattengift, Autos und ein Clown Das verrückte Olympia-Rennen, das fast Menschenleben kostete

So sehen Sieger aus: Thomas Hicks gewann den Olympischen Marathon von 1904.

So sehen Sieger aus: Thomas Hicks gewann den Olympischen Marathon von 1904.

(Foto: imago sportfotodienst)

Widrige Bedingungen, kaum Wasser, dafür Strychnin, verdorbene Äpfel, jagende Hunde, Not-Mittagsschlaf und ein betrügender Sieger. Klingt nach dem Plot für eine Hollywood-Komödie - war aber der absurde Olympische Marathonlauf 1904. Er jährt sich heute.

Man kann sagen: Diese Männer waren furchtlose Pioniere. An diesem 30. August, ein Dienstag, stellen sich 32 Athleten an die Startlinie im neu erbauten Francis Field zu St. Louis. Hier findet zum ersten Mal überhaupt ein Olympischer Marathonlauf auf amerikanischem Boden statt. Die Strecke war damals - anders als heute, wo ein Marathon über exakt 42, 195 Kilometer führt - "nur" 40 Kilometer lang, dazu später mehr.

Eines vorab: Von den 32 Startern sollten Stunden später nur 14 ins Ziel kommen, wobei der Zustand bei dem ein oder anderen sehr bedenklich war. Es ist bis heute die schlechteste Finisherquote bei einem Olympia-Marathon. Der Startschuss ertönte um genau 15:03 Uhr und die ersten fünf Runden ging es über die Rundbahn im Stadion vor Tausenden Zuschauern. Erste Verluste gab es schon in früh zu verzeichnen - der Boston-Marathon-Sieger von 1903, John Lordan, musste sich mehrmals übergeben und stieg aus.

Pferde! Hunde! Automobile!

Anschließend stürmten die Athleten hinaus in die Stadt und auf verschlungenen Feldwegen querfeldein bei St. Louis. Die Bedingungen für den Lauf waren katastrophal. 32 Grad im Schatten, dazu staubte es draußen auf den notdürftigen Wegen, die über sieben steile Hügel verliefen, wie wild. Die Strecke war nicht einmal offiziell abgesperrt. Kopf hoch für Pferde, Hunde und Automobile!

Die Startzeit aus heutiger Sicht: schwierig. Statt 9 Uhr vormittags wurden die Athleten nachmittags zur wärmsten Tageszeit auf die 40-Kilometer-Reise geschickt. Unterwegs wurde durch die voran fahrenden Autos derart viel Staub aufgewirbelt, dass einige Läufer über Dauer-Husten klagten. Wasser gab es nur an einer Stelle, ein Brunnen bei Kilometer 19 - heute sehen die Vorschriften mindestens acht Stellen für eine Wasserausgabe vor. Der Organisator James E. Sullivan nutzte den Lauf, um zur hanebüchenen These der "gezielten Dehydrierung" zu forschen.

So kurios wie die Bedingungen war auch das Starterfeld. Da war zum Beispiel der Kubaner Felix Carvajal. Ein Postbote, 1,53 Meter groß, einprägsamer Schnauzer und mit großen Ambitionen angereist. Er sammelte zäh auf der Insel Geld für seine Teilnahme, umrundete dabei sogar einmal sein Land. Kaum angekommen in den Vereinigten Staaten, soll er sein Geld im Casino verzockt haben. Kurzerhand trampte er dann von New Orleans nach St. Louis, erreichte gerade so rechtzeitig das Event. Am Lauftag erschien er mit schweren Straßenschuhen, langer Hose und langem Shirt. Um für einen sportlichen Look zu sorgen, schnitt er sich die Hosenbeine ab.

Ein Clown, ein Postbote, zwei Pioniere

Das Feld bestand größtenteils aus Amerikanern, darunter einige erfahrene Läufer wie Sam Mellor, Arthur Newton oder Thomas Hicks, der sein Geld lustigerweise als professioneller Clown verdiente. Ein anderer Favorit war Fred Lorz, ein Maurer, der vor allem nachts trainierte. Dazu nahmen zehn Griechen teil, die offenbar noch nie einen ganzen Marathon gelaufen waren und über die man kaum etwas wusste und zwei Südafrikaner, die nebenbei Geschichte schrieben. Len Taunyane und Jan Mashiani waren zwei Angehörige der Batswana und die ersten Schwarzen Afrikaner, die an Olympischen Spielen teilnahmen - auf Bildern sind sie teils barfuß zu sehen.

Ihr Start hat einen rassistischen Hintergrund. Die beiden nahmen an den "Anthropologischen Tagen" teil, die bei der Weltausstellung in St. Louis stattfanden. Olympia war zu dieser Zeit nicht mehr als ein Anhängsel der Weltausstellung - und bei jenen "Anthropologischen Tagen" sollten unter anderem indigene Stämme an ihnen angeblich fremden Sportarten teilnehmen. Dieses "Vorführen" spiegelt den damaligen Zeitgeist wider. Taunyane und Jan Mashiani waren als Schausteller einer Ausstellung dabei, bei denen sie Szenen des Burenkrieges nachspielten. Bei einem Meilenlauf wurden sie von den Veranstaltern für den Marathonlauf entdeckt.

Anfangs übernahmen Hicks und Lorz die Führung, diese wechselte aber auf den ersten Kilometern häufig durch. Die Bedingungen forderten weiteren Tribut. Reihenweise stiegen profilierte Läufer wie Boston-Sieger Mellor aus. Der amerikanische Athlet William Garcia brach bei Kilometer 30 plötzlich zusammen. Er wurde mit inneren Verletzungen auf der Straße liegend gefunden und musste tagelang im Krankenhaus aufgepäppelt werden.

Dreister Betrug, fahrlässige Ideen

Einer der Favoriten, Fred Lurz, hatte ebenfalls Probleme. Ihn plagten ab Kilometer 14 schwere Krämpfe. Also was tun? Er holte sich ein Auto heran - möglicherweise von seinem Trainer, da ist die Quellenlage unklar und ließ sich bis kurz vors Ziel fahren, winkte dabei Zuschauern und Gegnern. Als dann auch das Auto streikte, stieg er aus, lief "als Erster" ins Ziel und ließ sich feiern. "Ich wollte nur den Jubel genießen", soll er kleinlaut gesagt haben.

Das kann natürlich passieren im Verletzungstaumel. Tatsächlich bekam er gerade den Siegerkranz von Präsidenten-Tochter Alice Roosevelt überreicht, als ein aufmerksamer Zuschauer die Nachricht vom Autobetrug verbreitete. Schlecht für Lurz: Er wurde anschließend lebenslänglich gesperrt. Gut für ihn: Im Jahr darauf wurde der Bann schon wieder aufgehoben - er hatte sich entschuldigt und gewann - nach allem, was man weiß, regelkonform - den prestigeträchtigen Boston Marathon im Jahr 1905. Sieger des olympischen Rennens wurde damit Thomas Hicks, der eine wahre Odyssee hinter sich hatte und sich für diverse Experimente bei seinen Trainern und Helfern "bedanken" durfte.

Diese waren großen und innovativen Ideen der Sportwissenschaft auf der Spur - oder auch nicht. Jedenfalls hingen sie der Theorie nach, dass man bei einem langen Lauf nichts essen (ok) und nichts trinken (weniger ok) sollte. So lautete der Plan tatsächlich: Den Mund mit destilliertem Wasser ausspülen. Dafür wurde er mit warmem Wasser abgerieben. Hintenraus behalfen sie sich mit Strychnin, besser bekannt als Rattengift, das in kleinen Mengen allerdings aufputschend sein sollte.

Das Strychnin erhielt er als Kombination mit Brandy und Eiklar. Es war ein früher Versuch in der Geschichte der modernen Olympischen Spiele, einen Athleten mit biochemischer Unterstützung über seine Grenzen zu bringen. Allein: Hicks hatte wenig überraschend Halluzinationen und Schwindelgefühle, schleppte sich kurz vor dem K.o. über die Strecke. Er taumelte dann unter Strychnin-"Doping" als erster Nicht-Betrüger ins Ziel, gehalten und gestützt von seinen Begleitern (das wäre heut so nicht mehr erlaubt). Er musste im Finisherbereich aber nochmal über eine Stunde von Ärzten behandelt werden, die offenbar nicht zu Strychnin und Brandy griffen. Er soll über 3,5 Kilogramm während des Rennens abgenommen haben.

Seine Zielzeit: 3:28:51. Eine Zeit, die heute viele ambitionierte Hobbyläufer abspulen können, angesichts der Strapazen und wenig sportgerechten Umstände aber schon wieder sehr beachtlich. Hicks war damit sieben Minuten schneller als der Zweite, der französische Immigrant Albert Corey und 17 Minuten schneller als der Dritte Arthur Newton (USA). Der kubanische Postbote Carvajal kam als Vierter ins Ziel. Während des Rennens soll er Äpfel aus einem Garten gegessen haben, die prompt für Magenkrämpfe sorgten. Aus diesem Grund musste er kurz darauf noch einen Not-Mittagsschlaf am Wegrand hinlegen, um wieder Kräfte zu sammeln. Wer weiß, wie weit es für ihn gereicht hätte. Viele glauben, er hätte den Lauf gewinnen können.

Königin bestimmt Marathondistanz

Die beiden Südafrikaner belegten den 9. und 12. Platz. Taunyane wurde einem Bericht zufolge zwischendurch von einem Hund verfolgt und durchs Weizenfeld gejagt, ansonsten wäre wohl für ihn ebenfalls eine deutlich bessere Platzierung drin gewesen. Als letzter der 14. Finisher kam Andrew Oikonomou aus Griechenland ins Ziel. Die genaue Zeit ist bis heute unbekannt. Nach den ersten drei Plätzen wurde diese nicht mehr notiert. Es sollen aber noch stundenlang Athleten eingetrudelt sein.

Nach diesem erstaunlichen Rennen samt desaströser Planung seitens OK-Chef James O. Sullivan geriet der Marathon wenig überraschend in Verruf. Der Orga-Chef wollte ihn prompt wieder abschaffen - obwohl er selbst großen Anteil an der Misere hatte. "Ein 40 Kilometer-Lauf ist zu viel für die menschliche Ausdauer", polterte er. An seiner Kein-Wasser-Maxime hielt er aber weiter fest. "Ich habe noch nie in meinem Leben einen solch harten Kurs absolviert. Die gewaltigen Hügel reißen einen Mann einfach in Stücke", klagte Sieger Hicks. Er sollte nie wieder einen offiziellen Marathon laufen.

Sullivan setzte sich mit seinen Abschaffungsplänen aber doch nicht durch. Die bis heute gültig Marathondistanz von 42,195 Kilometern etablierte sich erst vier Jahre später in London. Der Grund so simpel wie royal schön: Die Strecke von Schloss Windsor bis ins Stadion betrug 42 Kilometer. Königin Alexandra bestand aber darauf, dass die Strecke doch bitte an ihrem Balkon vorbeiführen sollte. Das tat sie dann auch. Die zusätzliche Distanz: 195 Meter. So gelten die 42,195 Meter bis heute.

Quelle: ntv.de

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