"Es war episch, einfach episch" Der größte Abend der Weitsprung-Geschichte
30.08.2021, 20:23 Uhr
Der weiteste Sprung der Geschichte.
(Foto: imago/Laci Perenyi)
Am 30. August 1991 kämpfen bei der Leichtathletik-WM in Tokio Carl Lewis und Mike Powell um Gold im Weitsprung. Es wird ein Duell mit unglaublichen Weiten, einem ungewohnten Ausgang - und einem Weltrekord, der bis heute gültig ist.
Die Rollenverteilung am 30. August 1991 ist klar: Der große Favorit heißt Carl Lewis. "King Carl" ist seit zehneinhalb Jahren unbesiegt, hat in dieser Zeit 65 Weitsprung-Wettkämpfe gewonnen und kommt als zweimaliger Olympiasieger und zweimaliger Weltmeister nach Tokio. Und der 30-Jährige ist in glänzender Form, fünf Tage zuvor über die 100 Meter in neuer Weltrekordzeit von 9,86 Sekunden zu Gold gesprintet.
Seine Bilanz gegen Mike Powell lautet 15:0. Powell habe seine "gesamte Karriere im Schatten von Lewis verbracht", heißt es im Vorbericht des übertragenden US-Fernsehsenders "NBC". Allerdings ist das bis dahin letzte Duell denkbar knapp gewesen. Bei den US-Meisterschaften Mitte Juni in New York hatte Powell mit 8,63 Meter geführt, ehe Lewis ihn im sechsten und letzten Versuch um einen Zentimeter doch noch besiegte. "Ich habe immer gesagt, dass ich neun Leben habe - das hier war gerade mein achtes", meint Lewis anschließend erleichtert.
Powell: "Ich jage Carl seit acht Jahren"
Powell gibt sich trotz der erneuten Niederlage selbstbewusst. "Ich jage Carl seit acht Jahren. Im ersten Wettkampf hatte er mich mit rund 50 Zentimetern besiegt. Jetzt war es nur noch ein Zentimeter - und zwar im letzten Versuch." Unmittelbar vor der WM meldet sich Powell erneut. Lewis sei auch nur ein Mensch - und wenn dieser ihn besiegen könne, dann sei das auch umgekehrt möglich, betont er. Lewis nimmt die Sticheleien gelassen zur Kenntnis und stellt klar: Wer Weltmeister werden will, müsse ihn erstmal besiegen.
Einig sind sich die beiden US-Amerikaner darin, dass der 23 Jahre alte Weltrekord ihres Landsmannes Bob Beamon (8,90 Meter), aufgestellt 1968 in der Höhe von Mexiko City, fallen könne. Lewis' Bestwert liegt bei 8,79 Meter, Powells persönlicher Rekord beträgt 8,66 Meter. Doch die Bedingungen in Tokio sind schwierig. Die Vorboten eines Taifun sind bereits spürbar. Der Wind wechselt ständig. Zudem ist es heiß und schwül. "Die Luft war voller Elektrizität, es hätte jederzeit einen Blitzschlag geben können", erinnert sich Powell.
Kommentator glaubt nach erstem Sprung an Gold für Lewis
Powell beginnt mit 7,85 Meter. Lewis springt in seinem ersten Versuch 8,68 Meter. "Das könnte schon Gold für ihn gewesen sein. Mike Powell denkt vielleicht anders. Aber ich wäre überrascht, wenn diese Weite noch jemand übertrifft", sagt der britische TV-Kommentator Peter Matthews. Er sollte sich kräftig irren, Lewis in vier seiner nächsten fünf Versuche weiter springen - und trotzdem nicht gewinnen.
Auf Powells 8,54 Meter im zweiten Durchgang antwortet Lewis mit 8,83 Meter im dritten Versuch. Der Wind weht zwar etwas stärker als die erlaubten zwei Meter pro Sekunde, und die Weite findet in der Bestenliste keine Beachtung. Für den Wettkampf gilt sie dennoch - Lewis liegt somit klar in Führung. Kurz darauf springt er sogar noch weiter. So weit, wie nie jemand zuvor. 8,91 Meter. Einen Zentimeter weiter als Bob Beamon 1968. Doch wieder weht der Rückenwind etwas zu stark. Kein Weltrekord. "Ein Jammer, dass der Wind etwas über dem Limit war", meint Matthews. Dennoch, so der Kommentator weiter, hätten alle soeben "den Sprung ihres Lebens gesehen".
Lewis provoziert den Herausforderer
Lewis winkt trotz der verpassten Bestmarke zufrieden ins Publikum. Auf dem Weg zu seinem Platz kommt er an Powell vorbei, ballt seine Faust und stößt ein lautes "Yeah" heraus. "Ich war so wütend und hätte ihm am liebsten eine geknallt", so Powell. All seinen Frust legt er in seinen nächsten, den fünften Sprung. Es wird ein Satz in die Geschichtsbücher. Dabei trifft Powell den Balken nicht optimal, verschenkt sogar noch einige Zentimeter. Während der Flugphase schreit er auf, streckt seine langen Beine ganz weit nach vorne und zieht die Arme wuchtig nach hinten durch. "Ein großer Sprung für Powell. Das war gewaltig", brüllt NBC-Kommentator Dwight Stones.
Powell pustet nervös, als er auf das Ergebnis wartet. Mit ihm starren knapp 60.000 Richtung Anzeigetafel. Lewis gibt sich äußerlich unbeeindruckt, erhebt sich, zieht seinen dunklen Sweater aus und macht sich für seinen Versuch bereit. Plötzlich rennt Powell mit ausgestreckten Armen los, das Publikum reagiert mit einer Mischung aus Jubel, Kreischen und Raunen. 8,95 Meter. Weltrekord. Doch Lewis hat noch zwei Sprünge.
Alle anderen Weitspringer nur Statisten
Die anderen Weitspringer sind längst zu Statisten verkommen. Selbst der drittplatzierte Amerikaner Larry Myricks spielt trotz seiner 8,42 Meter nur eine Nebenrolle. Dass Dietmar Haaf, der amtierende Europameister und Hallen-Weltmeister, mit hervorragenden 8,22 Meter Vierter wird, interessiert allenfalls die deutschen Medien.
Im fünften Durchgang landet Lewis nach 8,87 Meter. Eine herausragende Weite. Aber an diesem Freitagabend in Tokio trotzdem nicht weit genug, um Powell von der Spitze zu verdrängen. Als Lewis zu seinem letzten Versuch anläuft, betet Powell. Erneut springt der Superstar weit. Doch sein emotionsloser Blick nach der Landung lässt vermuten, dass es nicht weit genug war. Powell kauert mittlerweile auf den Knien, als er auf das Ergebnis wartet. Den Weltrekord hat er, aber hat er auch erstmals Lewis besiegt? Dann die Erlösung: 8,84 Meter für Lewis, WM-Gold für Powell.
"Der größte Abend überhaupt"
"Es war episch, einfach episch. Carl springt dreimal mindestens 8,84 Meter und gewinnt trotzdem nicht?", ist NBC-Kommentator Stones auch heute noch angetan von dem Duell. Robert Emmijan, mit 8,86 Meter Vierter der ewigen Bestenliste und in Tokio für die Sowjetunion gestartet, spricht vom "größten Abend überhaupt."
Bob Beamons Weltrekord galt lange Zeit als "unantastbar". Powells Bestmarke ist mittlerweile sieben Jahre älter als es die von Beamon war. Und es hat in den vergangenen 30 Jahren niemanden gegeben, der sie auch nur annähernd in Gefahr gebracht hat. Die weitesten Sprünge seit jenem 30. August 1991 waren jeweils 8,74 Meter von den Amerikanern Erick Walder (1994) und Dwight Phillips (2009).
Lewis revanchiert sich ein Jahr später mit Olympiagold
Für Carl Lewis ist das Weitsprung-Silber von Tokio eine der wenigen Niederlagen seiner Karriere. Mit zwei Gold- und einer Silbermedaille wird er trotzdem der erfolgreichste Athlet der WM und revanchiert sich ein Jahr später mit dem Olympiasieg in Barcelona an Powell. Der wiederum verteidigt seinen WM-Titel 1993 in Stuttgart. Doch der Höhepunkt seiner Karriere ist der Triumph von Tokio. Leute würden ihn immer noch auf der Straße daraufhin ansprechen. Er habe zwar immer gedacht, dass er weit mehr sei als ein Weitspringer, so der 57-Jährige. Aber letztlich ist er für viele auch 30 Jahre nach seinem Super-Satz schlichtweg Mike Powell, der Weitspringer. Und das, so Powell, sei auch in Ordnung so. Darauf sei er stolz.
Quelle: ntv.de