Bizarre Posse um Liga-BestmarkeLichtlein, der ausgenutzte Rekordhandballer

Mit 626 Bundesliga-Einsätzen ist Carsten Lichtlein neuer Rekordspieler der Handball-Bundesliga. Er ist Welt- und Europameister, dazu zweifacher Europacupsieger. Wäre Lichtlein nicht zu oft Opfer seiner Zurückhaltung geworden, wäre aber wohl noch viel mehr drin gewesen.
Gestern Abend war es nun endlich so weit. Nachdem die Geschichtsschreiber und Statistik-Enthusiasten lange miteinander gestritten hatten und sich zu guter Letzt sogar die Handball- Bundesliga schlichtend und entscheidend zu Wort gemeldet hatte und die korrekte Zählweise anmahnte, konnte Carsten Lichtlein am Donnerstagabend nun endlich zum neuen Rekordmann aufsteigen. Die Begegnung bei der TSV Hannover-Burgdorf war der insgesamt 626. Liga-Einsatz des Handball-Keepers, der seit Sommer beim HC Erlangen unter Vertrag steht.
Der 39 Jahre alte Torsteher löste damit den langjährigen Führenden Jan Holpert ab, der die meisten seiner 625 Bundesligaspiele im Dress der SG Flensburg-Handewitt absolviert hatte. "Das freut mich schon irgendwie, aber zu Saisonbeginn wusste ich doch selbst nicht so genau, wann ich den Rekord knacke", sagt Lichtlein.
Die Verwirrung war zunächst groß, als der Torwart im Sommer in seine 20. Spielzeit startete. Denn als klar war, dass der 2,02-Meter-Mann im Laufe der Saison zum neuen Rekordhalter aufsteigen würde, zählten die Gralshüter der Statistik noch einmal genau nach. Und siehe da: Holpert hatte statt der lange angenommenen 618 Spiele plötzlich 625 absolviert. Der Grund: Anders als beim Fußball wird ein Einsatz gewertet, wenn der Spieler auf dem Spielberichtsbogen steht, selbst wenn er dabei keine Sekunde auf dem Platz gestanden hat. Das haben die internationalen Verbände IHF und EHF einst festgelegt.
"So ist einem nicht zum Feiern zumute"
Und da tauchten in Holperts Statistik offensichtlich noch ein paar Spiele aus der Frühzeit seines handballerischen Schaffens zu Beginn der 1990er Jahre auf, die bislang nicht gezählt worden waren. Man will halt genau sein, wenn es um historische Bestmarken geht. "In Vorbereitung auf den zu erwartenden historischen Rekord haben wir die Anzahl der Spiele vom derzeitigen Rekordhalter Jan Holpert und von Carsten Lichtlein anhand gleicher Kriterien überprüft", hieß es denn auch aus dem Hause der HBL hochoffiziell.
Gestern Abend nun beim Gastspiel in Hannover stand Lichtleich zumindest für wenige Minuten zwischen den Pfosten, allerdings dürfte ihn der neue Status des alleinigen Inhabers der Bestmarke nach Spielende kaum getröstet haben. Trotz zwischenzeitlicher Sechs-Tore-Führung verloren die Bayern in der niedersächsischen Hauptstadt am Ende mit 25:29, und Lichtlein konnte dieser Dienstreise schlussendlich nur wenig Erfreuliches abgewinnen. "Ich hätte heute auf den Rekord gern verzichtet und dafür lieber die Punkte mitgenommen", sagte ein enttäuschter Torsteher. "So ist einem nicht zum Feiern zumute."
So war es oft in der Karriere des Dauerbrenners. Es war ihm oft eine Ehre, dabei zu sein, doch für den Erfolg der Mannschaft steckte Lichtlein stets eigene Ansprüche zurück. Immer hatte das große Ganze, die Mannschaft, Vorrang. So war es schon 2007 beim WM-Gewinn der deutschen Nationalmannschaft im sogenannten Wintermärchen, als er vom damaligen Bundestrainer Heiner Brand zwar für den WM-Kader nominiert worden war, als dritter Keeper hinter Henning Fritz und Johannes Bitter allerdings nicht eine Sekunde spielte. Und so war es auch bei Olympischen Spielen, für die Lichtlein nie nominiert wurde.
Olympia-Trauma ist Teil der großen Karriere
Nie dabei gewesen zu sein, immer kurz vor Toresschluss aussortiert worden zu sein, das ist sein Trauma. "Heute komme ich aber damit klar, auch wenn das sicher die Tiefpunkte meiner Karriere waren", sagt er rückblickend. Und weiter: "Gut möglich, dass der eine oder andere meinen Charakter ausgenutzt hat." Weil es stets leichter war, einem Teamplayer eine Nominierung zu verweigern als einem Egomanen?
Erst später, als Dagur Sigurdsson Bundestrainer wurde, erfuhr er Wertschätzung. Da war er allerdings schon Mitte 30. Lichtlein hatte maßgeblichen Anteil am sensationellen EM-Gewinn 2016, auch wenn medial wieder nur die überragende Leistung seines Mitstreiters Andreas Wolff in Erinnerung geblieben ist. Es klingt fast unglaublich, doch Lichtlein absolvierte insgesamt die immense Zahl von 220 Länderspielen, die wenigsten davon schlecht.
Im Vereinshandball blieben ihm Meisterschaften und große Triumphe versagt. Er wurde beim TV Großwallstadt groß, doch die Wege trennten sich, als der Traditionsverein, der einst Meister und Europacupsieger war, in den Niederungen des Handballs verschwand und der damals 25-Jährige in die große Handballwelt auszog. Beim TBV Lemgo immerhin gewann er zwei Europapokale. Doch nicht einmal der Abstieg des großen VfL Gummersbach in diesem Sommer blieb ihm erspart. "So wie es gelaufen ist, war es katastrophal für den Dino aus Gummersbach" erinnert er sich. "Ich bin nach dem Abpfiff gleich in die Kabine gelaufen. Da war eine Grabesstille."
Kein Ende in Sicht
Jetzt hat es den zurückhaltenden baumlangen Kerl zurück in seine fränkische Heimat gezogen. Als gebürtiger Würzburger ist das so wie eine Rückkehr. Seit September ist Lichtlein zusammen mit Henning Fritz und Johannes Bitter zudem Teil eines Kompetenzteams, mit dem der Deutsche Handballbund eine einheitliche Torwartausbildung erarbeiten will.
In der Liga spielt er im Herbst seiner Karriere, das ist ihm bewusst. Und auch, dass seine Laufbahn eine große war und ist, die vielleicht noch größer hätte sein können, wenn er Ansprüche deutlicher formuliert hätte. So aber wird er als der vielleicht beste dritte Torhüter in die Geschichte des deutschen Handballs eingehen. Und als derjenige, der mit aktuell 523 gehaltenen Siebenmetern einen weiteren Bundesligarekord aufgestellt hat. Er könnte auch noch der älteste Bundesligaspieler werden, denn noch denkt Lichtlein nicht ans Aufhören. "Ich habe noch immer einen Riesenspaß am Handball, ich bin gesund und bislang von größeren Verletzungen verschont geblieben", sagt er. "Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Und warum soll ich das dann nicht so lange machen, wie ich kann?"