Fußball

Plötzlich wieder GeisterjägerDas unvorstellbare Jahr des Lionel Messi

26.12.2021, 18:27 Uhr
imageVon Florian Papenfuhs

In den letzten Jahren scheint Lionel Messis Geschichte auserzählt. Den FC Barcelona trennt nur das Karriereende seiner Nummer zehn davon, vollends im Mittelmaß zu versinken. In der argentinischen Nationalmannschaft ist Titellosigkeit beinahe Tradition. Dann schlägt der Sommer 2021 ein neues Kapitel auf.

2016 ist die Frage nach dem besten Basketballer der Moderne vom Tisch. LeBron James gewinnt den dritten NBA-Titel, es ist der erste mit seinen Cleveland Cavaliers. Unangefochten in der Gegenwart, nimmt James die Vergangenheit ins Visier: "Meine Motivation ist dieser Geist, den ich jage. Er hat in Chicago gespielt", sagt er gegenüber "Sports Illustrated" und meint damit sein Idol Michael Jordan.

Eine Chance darauf, ein Monument für die eigene Sportart zu werden, vielleicht der Größte aller Zeiten, kriegen nur die allerwenigsten Männer und Frauen. Unter ihnen befindet sich auch ein argentinischer Fußballer. Auch Lionel Messi ist seiner Zeit längst entwachsen. Spieler wie der jüngst von ihm selbst so gelobte Robert Lewandowski oder der vor allem von außen zu seinem großen Gegenspieler auserkorene Cristiano Ronaldo sind Legenden des Fußballs und müssen sich doch immer am phänomenalen Neu-Pariser messen lassen.

Messi hingegen erlebt Zeit seiner Karriere, analog zu LeBron James, Vergleiche in einer anderen Kategorie. Ist er besser als die 1000-Tore-Fabelgestalt Pelé? Kann er trotz aller Schüchternheit für sein Heimatland mehr bedeuten als Argentiniens ewiger Darling Diego Maradona? Und ist er in Barcelona größer als Johan Cruyff, die vielleicht wichtigste Person des modernen Fußballs?

Bankrott in Barcelona als Glücksfall

Für manche Menschen scheint die Beantwortung dieser Fragen abgeschlossen, für andere ist sie noch offen. Zuletzt droht Messi trotz all seines Könnens in einem rapide abbauenden Barcelona unterzugehen. Immer wieder schnallt er sich die Mannschaft auf den Rücken, immer weniger Titel gewinnen sie trotz ihres überqualifizierten Kapitäns. Irgendwann wird er seine Karriere dort voller Pathos beenden, wie einst Iniesta oder Puyol. Ganz sicher.

2021 war ein bemerkenswerter, weil nahezu unvorstellbarer Abschnitt in Messis Laufbahn, festzumachen an zwei Momenten im Sommer. Mitte Juli reckt Messi die Copa America in den Nachthimmel Brasiliens. Es ist sein erster großer Titel mit der Nationalmannschaft, die im Finale den Gastgeber schlägt. Nach dem Spiel sitzen Messi und Neymar scherzend im Kabinengang. Argentiniens Nummer Zehn führt die Torschützenliste an, wird zum besten Spieler des Turniers gewählt.

Einige Wochen später blickt der Weltfußball nach Reims, eine Stadt im Norden Frankreichs mit knapp 200.000 Einwohnern. Der Grund für die viele Aufregung sind jedoch die Gäste. In der 65. Minute klatscht Lionel Messi mit seinem guten Freund Neymar ab, mit dem er mittlerweile zusammenspielt. Mit 34 Jahren prangt zum ersten Mal in Messis Profi-Laufbahn ein anderes Vereinswappen auf seiner Brust als das des FC Barcelona. Dem Klub fliegen im Sommer endgültig die fantasievoll geführten Bücher um die Ohren, nicht mal umsonst könnte Messi bleiben, der Kader ist schlicht zu teuer. Und so schließt er sich dem Glamour-Projekt der Kataris an, Paris Saint-Germain.

Die Mannschaft wirkt an ihren besten Tagen fast unfair begabt, eine Zirkus-Truppe wie die Harlem Globetrotters. Doch es gibt auch fahrige, lustlose Auftritte, gerade in wichtigen Spielen brennt quasi dem ganzen Klub zu oft die Sicherung durch. Messi soll den vor Talent und Trotz strotzenden Haufen zum Champions-League-Titel führen, der Captain Copa America der Pariser Avengers sein. Fremdelt er anfangs noch sichtlich mit neuer Liga, neuer Rolle und neuen Kollegen, kommt er zuletzt immer besser in Fahrt. Trotz anfänglichen Trainingsrückstands und Knieproblemen erzielt er in der Gruppenphase der Champions League fünf Treffer in fünf Spielen. Als PSG Ende November Saint-Etienne schlägt, bereitet Messi drei Treffer vor.

Tom Brady oder Michael Jordan?

Nur einen Tag später, am 29.11.21 gewinnt eben nicht Robert Lewandowski den Ballon d'Or. Die zumindest in Deutschland heftig diskutierte Wahl hat immer auch einen Unterton: Die siebte Auszeichnung für Messi ist zu großen Teilen auch eine Art Lebenswerk-Auszeichnung. Doch soll es das gewesen sein? Messis Schritt zu Paris erinnert an andere große Sportler. Michael Jordan hat bei den Washington Wizards seine Karriere ausklingen lassen, Michael Schumacher bei Mercedes als Mentor fungiert. Dass es auch anders geht, zeigt Tom Brady, der auch nach seinem Abschied von den New England Patriots scheinbar mühelos weiter Rekorde bricht und Titel gewinnt.

Und so ist der Ballon d'Or auch eine Art Auftrag. Ist Lionel Messi noch der beste Fußballer der Welt? Robert Lewandowski sieht in den letzten Jahren aus, als würde er rückwärts altern und hinter ihm scharrt bereits die nächste Generation mit den Hufen. PSG-Juwel Kylian Mbappé und Dortmunds Ein-Mann-Büffelherde Erling Haaland schießen schon in jungem Alter alles kurz und klein. Und doch ist Messi genau an der richtigen Stelle, um der Welt ein letztes Mal zu beweisen, dass er der Größte ist.

Katar könnte das Finale seiner Karriere werden

Das Star-Ensemble der Pariser hat eine echte Chance auf den Henkelpott, trotz aller Balance-Probleme. 90 Minuten lang Lionel Messi, Kylian Mbappé und Neymar in Schach halten zu müssen, ist für jede Mannschaft der Welt ein Problem. In der Liga dominiert das Team, nationale Titel scheinen nach der desaströsen Saison 2020/21, in der man sogar die Meisterschaft verpasste, wieder nur noch Formsache. 2022 ist für Lionel Messi vieles möglich: das Triple mit PSG, darauffolgende Supercup-Gewinne, eine Titelsammlung, die der des Rekordhalters Dani Alves gefährlich nahe kommt.

Und wie als Finale seiner Karriere, wartet in einem Jahr, nach der Ballon-d'or-Gala, die erneut seine werden könnte, die Weltmeisterschaft. Es wird seine Fünfte, kein Spieler hat an mehr WM-Endrunden teilgenommen. Die Nationalmannschaft ist gut drauf, hat sich neben dem Gewinn der Copa höchst souverän für das Turnier qualifiziert. Mit 35 Jahren könnte Lionel Messi doch noch Weltmeister werden. Allerspätestens dann könnte der argentinische Fußballer die Geisterjäger-Ausrüstung zur Seite legen. Dann wäre er selbst der Geist.

Quelle: ntv.de