Heidel hatte "ganz andere Ideen" Ein Fußball-Wunder gegen alle Widerstände
22.05.2021, 07:21 Uhr
Christian Heidel kehrt nach Mainz zurück und rettet den Verein im Verbund mit bewährten Kräften vor dem Abstieg. Das ist rechnerisch ein Wunder. Ein Wunder, das es gar nicht hätte geben sollen.
Nein, in Mainz den Messias zu geben, den Hoffnungsträger, darauf hatte Christian Heidel eigentlich keine Lust. Also: Überhaupt nicht. "Ein Comeback war niemals Teil meiner persönlichen Lebensplanung", erzählt der Sportvorstand des 1. FSV Mainz 05 im Interview mit RTL/ntv. "Hätte mir jemand am 1. Dezember erklärt, dass ich drei Wochen später in Mainz bin, hätte ich ihn für völlig verrückt erklärt. Ich wollte das auch wirklich nicht, ich habe den Verantwortlichen auch im ersten Gespräch gesagt, dass das für mich überhaupt kein Thema ist."
Im Dezember gibt es auch wirklich viele gute Gründe, sich möglichst weit aus Mainz fernzuhalten. Die Tabellensituation? Aussichtslos, kurz vor Weihnachten nur sechs eigene Punkte und vier Zähler Rückstand wenigstens auf den Relegationsrang, nach dem Ende der Hinrunde waren es sieben Zähler, der Abstand auf Platz 16 betrug satte acht Punkte. Nur drei Teams sammelten in der 58-jährigen Geschichte der Bundesliga in ihren ersten 17 Spielen weniger Punkte.
Viel schlimmer, schmerzhafter muss für Heidel die Entfremdung der Fans, der Stadt mit der Mannschaft gewesen sein. Mehr lust- als glücklose Auftritte, ein Spielerstreik, der wenig transparent wegmoderiert wurde, ohne dass ganz klar wurde, was diese in Mainz bis dahin undenkbare Eskalation befeuert hatte - aber Trainer Achim Beierlorzer dann doch mit kurzer Verzögerung den Job kostete. Mainz 05 war Ende 2020 Schalke 04 in Rot-Weiß - nur seit knapp zwei Jahrzehnten ohne Katastrophenerfahrung. Ein Karnevalsverein in der Depression.
Bei den Verantwortlichen aus Vorstand und Aufsichtsrat dürfte die Absage von Heidel mindestens für Panik gesorgt haben. Zwei Tage vor Weihnachten treten Aufsichtsratschef Detlev Höhne und Klubboss Stefan Hofmann für eine kurzfristig anberaumte Pressekonferenz vor die Kameras. Der wirtschaftlich erfolgreiche, absolut honorige, am Ende aber glücklose Sportvorstand Rouven Schröder hatte zuvor seinen Rücktritt eingereicht, Beierlorzer-Nachfolger Jan-Moritz Lichte war nach einem desaströsen Pokalaus gegen den Zweitligisten VfL Bochum nur noch Trainer auf Abruf. Als Hofmann und Höhne eröffneten, hoffte Fußball-Mainz noch auf die Verkündung des Befreiungsschlags: Heidel kommt zurück, bringt den in Mainz zum Trainer gewordenen und ungeheuer geachteten Bo Svensson mit - und leiten damit kurz vor dem Fest die Wiederauferstehung des Vereins ein. Es geschah: Nichts. Immer klarer wurde, dass nichts klar ist, schon gar nicht mit Heidel.
"Es war einfach nicht mein Plan"
Erschreckender noch: Es gab den vagen Plan Heidel, aber keinen Plan B. Nicht wenige Beobachter empfanden den Auftritt als Hilfeschrei. Auch für Heidel bedeutet es Druck, dass der Verein ihm sein Schicksal zu Füßen legt. "Ja, das muss ich klar sagen. Weil es dann eben schnell heißen kann, 'er hat uns nicht geholfen.' Zeit hatte ich ja, aber es war einfach nicht mein Plan. Ich hatte ganz andere Ideen." Immer wieder seien die Verantwortlichen an ihn herangetreten, erzählt Heidel, "irgendwann ging das in die Richtung 'Du musst jetzt helfen, sonst ...'" Und dann macht man sich Gedanken um sein kleines Baby, über das, was vor vielen Jahren mal begonnen hat mit Mainz 05 und mir. Dann habe ich mit der Familie geredet, die war hellauf begeistert - in Anführungszeichen. Irgendwann habe ich dann gesagt: Ich möchte nicht, dass es irgendwann mal heißt "Wir haben Christian um Hilfe gebeten und er hat einfach abgelehnt"."
Machte er nicht: "Über Weihnachten habe ich da gesessen und geschaut, mit wem ich es machen könnte. Ich hatte entschieden, dass ich es mache, wenn ich die Leute bekomme. Bedingung war für mich, dass Bo ja sagt und dass Martin Schmidt ja sagt. Da hatte ich das Gefühl, dass es eine Mannschaft ist, die ich gut kenne, der ich vertraue und mit der wir vielleicht nochmal eine kleine Chance haben." Neben Bo Svensson, dem Trainer, sagte auch Martin Schmidt ja, der Ex-Trainer und künftige Sportdirektor, mit dem Heidel noch an Heiligabend vier Stunden lang die gemeinsame Rettungsmission ausgelotet hatte.
Am 3. Januar verkündete Mainz 05 die Rückkehr von Christian Heidel, der "seinen " Verein 2016 nach drei Jahrzehnten gen Gelsenkirchen verlassen hatte. Es war - Entschuldigung für den Pathos - die Rückkehr der Hoffnung in ein wie sediert wirkendes Fußball-Mainz.
Heidel war nicht immer der Retter
Dabei hatte Heidel noch bei seiner Antrittsspressekonferenz verkündet, er sei ja gar "nicht der Heiland, ich bin nicht der Messias. In der Vergangenheit war mit mir auch nicht alles optimal." Heidel war ja wirklich nicht immer der Retter, der Held, Mainz-Messias. Mitte der Neunziger war Mainz 05 ein zuverlässiger Possen-Produzent, ein Zweitligist aus dem unteren Qualitätssegment. Trainer kamen und gingen, lieferten dabei Peinlichkeiten ab wie Eckhard Krautzun, der den "Bruchweg" - die Heimat des FSV Mainz 05 - kurzerhand zu seinem Antritt in den Mainzer "Bruchsee" umwidmete.
Und Heidel trug durchaus seinen Teil dazu bei, einmal demütigte er den blassen Fast-Aufstiegs-Trainer Reinhard Saftig vor laufenden Kameras als planlos. Der dauernde Klassenkampf hatte Mainz 05 hart gemacht, rau. Und Heidel zwischenzeitlich zermürbt: Als es mal wieder allzu wild zuging, wurde einst sein Sohn in der Schule bedroht, Heidel schmiss hin, kehrte aber wenige Monate später wieder zurück. Er kann nämlich nicht anders und in Mainz, ja, da ist der Rest Geschichte. Erfolgsgeschichte.
"Christian Heidel, du bist der beste Mann", hatten ihn die Fans 2016 verabschiedet, ihren heulenden Manager-Gott, unter dem man vom grauen Zweitligisten zum strahlenden Karnevalsverein wurde, dreimal europäische Wettbewerbe erreichte und einmal sogar einen Bundesliga-Startrekord von sieben Siegen in Serie produzierte. "Du bist das Herz und Seele dieses Klubs", grüßte Jürgen Klopp damals schon aus Liverpool von der Anzeigentafel.
Mit Jürgen Klopp hatte Heidel einst in einer Verzweiflungstat einen klugen, immer brennenden, aber nicht eben eleganten Profi 2001 zum Cheftrainer befördert, der dem Verein erst den Klassenerhalt in der zweiten Liga und schnell eine Identität schenkte, danach eine Stadt, später eine ganze Fußballwelt für sich einnahm. Und er beförderte einen A-Jugendtrainer namens Thomas Tuchel wenige Tage vor Saisonstart auf den Trainerstuhl, den Aufstiegstrainer Jörn Andersen räumen musste. Der Norweger hatte sich zu weit von dem entfernt, wofür Mainz 05 stehen wollte und will. Auf Thomas Tuchel ließ Heidel in Mainz den Dänen Kasper Hjulmand folgen, der am Rhein nicht nachhaltig reüssierte, heute aber Nationaltrainer seines Landes ist. Später installierte er Martin Schmidt, der den kleinen Klub in die Europa League führte. Nun also Svensson, Heidels "Der oder keiner"-Trainer.
"Es ist wieder was entstanden"
Der Däne, für eine geringe Ablösesumme vom FC Liefering aus Österreich geholt, schlug ein, nach drei Niederlagen zum Auftakt spielte Mainz 05 beinahe eine Champions-League-Rückrunde, packte auf die kläglichen 7 Hinrundenpunkte noch 29 Punkte drauf, schlug den FC Bayern, Leipzig und am wichtigsten: Nahm den Konkurrenten Arminia Bielefeld und 1. FC Köln jeweils 14 Zähler ab, Werder Bremen 16 und dem FC Schalke sogar 20. Schalke 04 in Rot-Weiß? Dunkle Schatten der Vergangenheit. Am Schluss des von Schmidt zum "geilsten Abstiegskampf aller Zeiten" ausgerufenen Endspurts ein vergleichsweise souveräner Klassenerhalt.
"Der Schlüsselmoment war die erste Woche, da ist es Bo gelungen in der Mannschaft Vertrauen zu gewinnen und auf einmal hatten alle ein bisschen das Gefühl, dass hier doch noch etwas geht", blickt Heidel zurück. "Die Mannschaft hat nach zwei Trainingseinheiten mit Bo gespürt, dass da jemand ist, der weiß wovon er redet, das Training wurde auch komplett umgestellt. Bo ist sehr hart, gegen sich selbst und auch im Umgang mit der Mannschaft, aber er nimmt die Spieler auch in den Arm."
Mit einer einst wie toten Mannschaft, mit der sich kaum ein Fan mehr identifizieren wollte, rettete Svensson den Klub vor dem Abstieg - und führte eine Fußball-Stadt aus der Depression zurück zum Optimismus. "Wir haben Gespräche mit den Spielern geführt, da gab es kein einziges, in dem man das Gefühl hatte, dass einer den Stellenwert von Mainz 05 nicht verstanden hat. Es ist wieder etwas entstanden, das haben auch die Leute in der Stadt gespürt. Alle haben für Mainz 05 gespielt, das war sicherlich ein Schlüssel für den Erfolg", schwärmt Heidel noch. Der Klassenerhalt stand nach 32 gespielten Mainzer Spielen fest, nachdem durch das 2:0 des FC Augsburg gegen Werder Bremen der Gang in die zweite Liga auch rechnerisch verhindert war.
Klopps euphorische SMS
Der Vollzug des Wunders, er begeisterte nicht nur in Mainz. "Wenn ich es richtig weiß, kam die SMS von Jürgen wenige Minuten nach Spielende. ich bin immer wieder erstaunt, was er mir für Bildchen schickt, wo er die alle her hat. Ich weiß gar nicht, wie das funktioniert", lacht Heidel. "Ganz viel "Hurra" und "Händeklatschen", ich glaube ein Pokal war dabei. Das ist auch nicht gespielt, Jürgen Klopp fiebert immer noch mit Mainz 05 mit. Das ist hier seine Heimat und ich weiß, dass er sich riesig über den Klassenerhalt gefreut hat."
Klopp, der Welttrainer, der Champions-League-Sieger, hat Mainz im Blick und natürlich ist die Vereinsikone auch in Mainz noch gegenwärtig. Als lebendige Erinnerung, aber nicht als ewiger Maßstab für alles, was auf ihn folgte: "Mir tut das immer leid: Wenn wir in Mainz einen guten Trainer haben, wird der immer gleich mit Jürgen Klopp und Thomas Tuchel verglichen", sagt Heidel zu seinem neuen Trainer-Coup, der jetzt in der Tradition der beiden Großtrainer steht.
"Für Bo war das hier ein Glücksfall: Er hat unter beiden trainiert. Das Potenzial ist da, aber ich möchte meinem Trainer, der jetzt ein halbes Jahr da ist, keine Rucksäcke aufziehen." Das Allerwichtigste aber sei, "dass Bo Svensson Bo Svensson bleibt. Er ist ein junger Trainer, der sich hier entwickeln und entfalten kann. Tuchel wurde Tuchel, Klopp wurde Klopp. Ich glaube, das genießt Bo hier auch, weil er das auch spürt. Er ist schon ein sehr guter Trainer und er kann ein noch viel besserer Trainer werden, wenn die Erfahrung aus seinem Wirken dazu kommt." Klopp bleibt Klopp, Svensson bleibt Svensson - und Mainz ist wieder Mainz. Und Christian Heidel lieferte tatsächlich das Wunder auf Bestellung.
Quelle: ntv.de