Redelings Nachspielzeit

"Dieser Klugscheißer!" Als die Bayern den "unerträglichen" Marcel Reif boykottieren wollten

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Der TV-Moment als Marcel Reif 1998 zusammen mit Günther Jauch auf kongeniale Art und Weise die Zeit in Madrid überbrückte, als noch vor Spielbeginn ein Tor umgefallen war, wird auf ewig im Gedächtnis der Zuschauer bleiben. Doch der TV-Kommentator hatte nicht nur glückliche Momente vor dem Mikrofon - wie Rudi Völler und Uli Hoeneß bestätigen können.

Rudi Völler war nicht mehr zu beruhigen. Seine Bayer-Elf war gerade in Dortmund sang- und klanglos mit 0:3 untergegangen - und der Leverkusener Manager tobte wütend in der Mixed Zone herum: "Was der sagt, geht mir am Arsch vorbei. Das können Sie ruhig so schreiben!" Und als ob das den Journalisten vor ihm nicht schon genug Futter für ihre Texte und Berichte gewesen wäre, ergänzte der Weltmeister von 1990 noch in seiner unnachahmlichen Art: "Dieser Klugscheißer!"

Stein des Anstoßes war damals ein Satz von Marcel Reif, der im Grunde äußerst pointiert die Hilflosigkeit der Bayer-Elf gegen den amtierenden Deutschen Meister an diesem Tage zusammenfasste. Denn als Karim Bellarabi verletzt am Boden lag, meinte Reif: "Jetzt müssen sie den Ball ins Aus spielen, das werden die Leverkusener ja wohl noch hinbekommen." Völlers verbalen Querschläger fing der TV-Kommentator übrigens am nächsten Tag ebenso gekonnt auf souveräne Weise ein, als er sagte: "Das ist ein freies Land, da kann jeder seine Meinung sagen."

"Wie heißt der? Reif oder wie?"

Für Marcel Reif war diese Völler-Watschen im September 2012 allerdings bei weitem nicht die erste in der TV-Öffentlichkeit. Schon im Jahr 1985 hatte sich der damalige Teamchef der deutschen Nationalmannschaft, Franz Beckenbauer, im "Aktuellen Sportstudio" des ZDF äußerst despektierlich in seiner legendär süffisanten Art über Reif zu Wort gemeldet. Der in Polen geborene und in Tel Aviv und Kaiserslautern aufgewachsene Reif war damals gerade erst aus dem Londoner Büro des ZDF in das sportliche Fach übergewechselt, als der "Kaiser" sagte: "Jetzt habt Ihr ja noch so einen Zauberer. Wie heißt der? Reif oder wie? Der spricht wunderbare politische Kommentare. Aber bitteschön lasst ihn vom Fußball weg!"

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Doch das passierte nicht - und auch aus der Rivalität der beiden Alphatiere ("Franz Beckenbauer hat immer recht, aber es muss ja nicht stimmen", Marcel Reif) entwickelte sich über die Jahre eine Art kollegialer Freundschaft. Und so verwundert es nicht, dass Marcel Reif einer der wenigen war, der in den für Beckenbauer schwierigen Jahren nach der Enthüllung der Unregelmäßigkeiten rund um die WM-Vergabe 2006 zu seinem langjährigen TV-Kollegen hielt.

So schrieb Marcel Reif 2017 in seinem Buch "Nachspielzeit" einige wahre Worte, die leider viel zu wenig beachtet wurden: "Ich will nicht kleinreden, was ans Licht gekommen ist, großartige Recherchen. Chapeau. Aber wenn ich sehe, wie schnell es geht, dass einer vom Helden zum Aussätzigen wird in der Sicht der Menschen, die über ihn reden - sorry, da schnürt es mir den Hals ab. Wenn ich Beckenbauer vor mir sehe, nach den Enthüllungen, und mich frage, wie ich mich jetzt mit ihm und seiner Geschichte fühle - dann merke ich: Ich kann nicht einfach drauflosblöken und mich entsetzen und entrüsten. Dafür habe ich selbst zu viel angestellt. Selbst an der falschen Stelle Hurra geschrien. Selbst Leute verletzt, enttäuscht."

Legia Warschau, die damals noch Zentralny Wojskowy Klub Sportowy hießen, war Reifs erste große Liebe. Er erzählte einmal: "Ich war vier Jahre alt, als mich mein Vater - ich vorne auf dem Tank seines Motorrads zwischen seinen Beinen sitzend - zu meinem ersten Livespiel mitgenommen hat." Später, in seiner neuen Heimat Kaiserslautern, wuchs ihm die Elf vom Betzenberg ans Herz. Als Marcel Reif einmal gefragt wurde, welcher Verein ihn zuletzt zu Tränen gerührt hätte, antwortete er: "Als der 1.FCK 1998 im Aufstiegsjahr Deutscher Meister wurde." Zu seinem 75. Geburtstag wünscht sich Reif nun sportlich nichts sehnlicher als einen Aufstieg der "Roten Teufel" in die erste Liga.

Als er 1984 vom politischen ins sportliche Fach wechselte, hatte Marcel Reif Glück, dass er auf einen wunderbaren Lehrmeister und späteren Freund traf. Dieter Kürten. Ihm widmete Marcel Reif sein Buch "Auswärtsspiel", weil er Dieter Kürten zu verdanken hatte, dass er "die letzten 35 Jahre als Kommentator ein wesentlich angenehmeres Leben geführt habe", als ohne ihn. Ansonsten wäre er, wie Reif schreibt, "wohl erst am Tag des Spiels angereist, hätte mit einem lauwarmen Kaffee-to-go ein zähes Sandwich runtergeschluckt, um dann hektisch ins Stadion zu eilen irgendwo, egal wo in Europa".

"Nur ein froher Zeisig kann schön trällern"

Doch ein frühes Erlebnis als "Jungspund" und Assistent des langjährigen Moderators des "Aktuellen Sportstudios" habe Marcel Reif die Augen geöffnet. Dieter Kürten habe, als Reif bereits am Vortag einer Partie über die taktischen Ausrichtungen der Mannschaften sprechen wollte, gemeint: "Wie du richtig sagst: Die spielen morgen. Heute müssen wir erst einmal vernünftig warm essen und kalt trinken." Denn so Kürten weiter: "Sieh mal: Wie das Spiel morgen läuft, darauf haben wir keinen Einfluss. Dass es uns heute gut geht, darauf allerdings sehr wohl. Und nur ein froher Zeisig kann schön trällern."

An Marcel Reif mögen die Zuschauer und Zuhörer bis heute, dass aus all seinen Sätzen die große Liebe fürs Spiel spricht. Als im Eröffnungsspiel der WM 1990 in Italien sich die Mannschaft des krassen Außenseiters Kamerun anschickte, den amtierenden Weltmeister Argentinien zu schlagen, hielt Reif seine Emotionen nicht künstlich zurück und sprach in sein Mikrofon: "Ich darf als Reporter ja nicht parteiisch sein ... ich will auch nicht parteiisch sein - aber ... lauft, meine kleinen schwarzen Freunde, lauft!" Reif drückte damit damals die Gefühle fast aller TV-Zuschauer in wunderbaren Worten aus.

Es sind diese Momente, die ewig haften bleiben werden. Wie natürlich auch seine mittlerweile legendären Worte beim Champions League Finale 1997 in München - als der BVB insbesondere durch einen unvergesslichen Treffer von Lars Ricken den Pokal gewann: "Ja, jetzt geht auch Stephane Chapuisat - und Lars Ricken kommt. Der Mann mit dem entscheidenden Tor in Auxerre, mit dem entscheidenden Tor in Manchester. Möller. Ricken! Ricken! Lupfen jetzt! Jaaaaaaa! Fünf Sekunden auf dem Platz. Fünf Sekunden! Lars Ricken! Das kann man nicht erfinden. Legenden werden geboren, und sie sind live dabei!"

"Ein Tor würde dem Spiel guttun"

Auf ewig unvergessen wird natürlich ebenfalls ein anderer TV-Moment bleiben - für den Marcel Reif und sein Kollege Günther Jauch 1998 völlig zurecht den "Bayrischen Fernsehpreis" erhielten. Die zum Teil grotesk komischen Wortwechsel zwischen den beiden beim Champions-League-Spiel zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund, als noch vor dem Beginn der Partie ein Tor umgefallen war, sind in die Geschichte des deutschen Fußballs eingegangen.

Besonders eine Stelle wird bis heute immer wieder gerne zitiert. Jauch: "Wir brauchen ein schnelles Tor?" Reif: Ja. "Das würde dem Spiel guttun. (Lautstarkes Gelächter) Der Satz: Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gutgetan wie heute hier. Frühes…, ein…" Jauch: "…ein frühes…" Reif: "…ein Tor…" Jauch: "…ein ganz frühes Tor." Reif: "…ganz früh! Oh, Gott!"

Doch bei all den großen Momenten und all dem Lob gab es immer wieder eben auch Kritik - und das nicht nur vonseiten der Zuschauer. Gerade auch die Fußball-Prominenz haderte gerne an den nicht selten deutlichen Worten ("Die Stars von heute benehmen sich wie die Schauspieler: Von dem Wort 'Engagement' mögen die nur das Mittelstück: Gage") des Fußball-Experten. So war im Jahr 2003 für den Bayern-Manager Uli Hoeneß angesichts einiger Kommentierungen Reifs das Fass mal wieder komplett übergelaufen.

"Für mich unerträglich"

Mit hochrotem Kopf stand er vor den TV-Kameras und fauchte: "Wir werden uns überlegen, ob wir jetzt mal 'Premiere' boykottieren mit Marcel Reif. Das ist für mich unerträglich. In Glasgow beim 0:0 hat er uns niedergemacht. 90 Minuten Totalverriss. Da haben uns Leute geschrieben, dass sie ihn nicht ertragen konnten." Doch Reif machte selbstverständlich weiter - und die Bayern beruhigten sich wieder.

Als Uli Hoeneß vor ein paar Jahren mal wieder in der sonntäglichen TV-Sendung "Doppelpass" anrief und die versammelte Runde verbal zerlegte, fasste sich Marcel Reif am schnellsten und meinte ruhig wie klug und weitsichtig: "Ich glaube, der FC Bayern wird diesen impulsiven Hoeneß weiter brauchen, auch wenn er keine Funktion mehr im Verein hat."

Heute feiert Marcel Reif seinen 75. Geburtstag. Auch wenn er mittlerweile nicht mehr im Mittelpunkt des ganz großen öffentlichen Interesses steht, kann man seinen Satz über Uli Hoeneß in Teilen auch auf ihn adaptieren: Ein Marcel Reif in Höchstform wird auch heute noch immer gebraucht in Fußball-Deutschland. In diesem Sinne alles Gute und Glück auf, lieber Marcel Reif, zum Geburtstag!

Quelle: ntv.de

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