Wirtschaft

Endgültiges Aus von Kernenergie? Der (vermutlich) letzte Text, den Sie über AKW lesen müssen

Am 15. April sollen die drei verbliebenen Kernkraftwerke in Deutschland endgültig vom Netz gehen.

Die Kernenergie hatte 2022 noch einen Anteil von 6,4 Prozent am deutschen Strommix.

(Foto: Sina Schuldt/dpa)

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Heute Abend werden die letzten drei Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim und Isar 2 endgültig vom Netz gehen - so hat es zumindest der Bundestag beschlossen, nachdem Kanzler Olaf Scholz im vergangenen Jahr ein Machtwort gesprochen hatte. Doch kurz vor dem Ende der Laufzeiten entbrennt wieder eine Debatte über den möglichen Einsatz von Atomkraftwerken. Die einen sagen: In Zeiten von Energiekrise und Energiewende können wir es uns nicht leisten, auf Atomstrom zu verzichten. Die anderen sagen: Sie ist eine teure und gefährliche Energiequelle, die nicht viel zur Versorgungssicherheit beiträgt. Was also nun? Ein Überblick:

Warum werden die Atomkraftwerke abgeschaltet?

Die Abschaltung der Atomkraftwerke erfolgt auf Grundlage des Ausstiegsbeschlusses der damaligen rot-grünen Bundesregierung von 2002 beziehungsweise dessen Neuauflage 2011 nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima durch die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Atomgesetz ist seither auch ein Neubau von Atomkraftwerken untersagt.

Wieso wurden die Atomkraftwerke nicht zum Jahresende abgeschaltet?

Eigentlich hätte die Abschaltung zum Jahreswechsel erfolgen sollen, dies war jedoch aufgrund der Energieknappheit wegen des Ukraine-Krieges um dreieinhalb Monate verschoben worden. Für die Verlängerung wurden zwar keine neuen Brennelemente mehr eingesetzt, die vorhandenen aber noch einmal neu konfiguriert. Der folgende sogenannte Streckbetrieb ging einher mit einer verringerten Kraftwerksleistung. Grundlage der verlängerten Betriebsdauer war ein Machtwort von Scholz, nachdem sich vor allem FDP und Grüne nicht über das Ausmaß des Streckbetriebes hatten einigen können.

Wie viel Strom erzeugen die letzten drei Reaktoren derzeit?

Im vergangenen Jahr betrug der Anteil der Kernenergie am Strommix nur 6,4 Prozent. Damit hat sich der Anteil im Vergleich zu 2021 fast halbiert.

Was hat der Weiterbetrieb bis Mitte April gebracht?

Einen überschaubaren Beitrag. Im Januar und Februar hatte Kernenergie nach Angaben des Branchenverbandes BDEW einen Anteil von vier Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland - ein Drittel weniger als im Gesamtjahr 2022. Manuel Frondel vom RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen sagte, der Weiterbetrieb sei insofern hilfreich gewesen, als dass französische Atomkraftwerke in großer Zahl noch immer nicht am Netz seien.

Muss jetzt mehr Gas verstromt werden, wenn die AKW abgeschaltet werden?

Kernkraftwerke sind Grundlastkraftwerke. Das heißt, sie produzieren den ganzen Tag über Strom und können nicht schnell für Spitzenzeiten an- und abgeschaltet werden. Gaskraftwerke können dagegen schneller hochgefahren werden. Gas- und Atomkraftwerke spielen also eine sehr unterschiedliche Rolle bei der Stromversorgung.

Berechnungen des Analyseinstituts Energy Brainpool im Auftrag der Öko-Energie-Genossenschaft Green Planet Energy zeigen, dass der Weiterbetrieb der letzten drei Kernkraftwerke nur ein Prozent des Erdgasverbrauchs einsparen würde.

Was wird dann den Anteil der Kernenergie am Strommix ersetzen?

Die Modellierung von Energy Brainpool hat gezeigt, dass Kernkraftwerke vor allem die Stromerzeugung aus Braun- und Steinkohlekraftwerken ersetzen und den Stromexport erhöhen. Genau das kritisiert der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Jens Spahn, im "Frühstart" von ntv: "Dieser grüne Klimaminister lässt lieber Kohlekraftwerke laufen - den Klimakiller schlechthin, CO2-Dreckschleudern - als klimaneutrale Kernkraftwerke."

Also wäre ein Weiterbetrieb für klimaneutrale Energieerzeugung besser?

Kurzfristig, ja. Langfristig sieht es anders aus. Denn die Reaktoren hinterlassen hochradioaktive Abfälle. Zurzeit wird der Atommüll in Zwischenlagern gelagert. Langfristige Lösungen werden noch gesucht. Klar ist nur, dass er künftige Generationen über Jahrhunderte beschäftigen wird: Nach den derzeitigen Plänen soll der Atommüll für eine Million Jahre tief im Gestein gelagert werden.

Die Modellierung von Energy Brainpool kam auch zum Schluss, dass Kernenergie für den deutschen Stromexport wichtig ist. Warum?

Deutschland ist ein wichtiger Strom- und Gaslieferant für Europa. Das liegt an seiner geografischen Lage, aber auch an der Größe des Landes. Auch der europäische Strommarkt, der integriert ist und zur Versorgungssicherheit aller EU-Länder beitragen soll, spielt hier eine Rolle. In der Vergangenheit hat Deutschland beispielsweise häufig Strom nach Frankreich, aber auch nach Österreich exportiert. Deshalb muss die Regierung bei der Modellierung nicht nur die eigene Versorgungssicherheit im Auge behalten.

Im vergangenen Jahr musste Deutschland sogar Gas verstromen, um Frankreich kurzfristig zu unterstützen. In Zeiten der Gasknappheit wäre es sinnvoller, weiterhin Kernenergie zu exportieren als wertvolles Gas zu verstromen.

Droht die Versorgungssicherheit zu kippen, wenn die Kraftwerke abgeschaltet werden?

Während der Debatte um die Laufzeitverlängerung im vergangenen Jahr hat das Bundeswirtschaftsministerium einen Stresstest in Auftrag gegeben, um herauszufinden, ob Deutschland im Falle einer drohenden Energiekrise ohne Atomstrom auskommen könnte. Das Ergebnis: Eine Krisensituation im Stromsystem war für den vergangenen Winter eher unwahrscheinlich, konnte aber nicht ausgeschlossen werden. Deshalb wurden die AKW für einen Streckbetrieb eingesetzt. Die befürchtete Gasknappheit und Energiekrise ist jedoch nicht eingetreten - wenn auch nicht ohne einige Preisschocks.

Wie sieht die Versorgungssicherheit für den kommenden Winter aus?

Hier gehen die Meinungen auseinander: Die einen sagen, dass wir auch ohne Kernenergie gut durch den kommenden Winter kommen werden. Zum Beispiel Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE: "Meiner Meinung nach brauchen wir die AKWs nicht für den nächsten Winter", sagt Burger dem Portal ZDFheute. "Es gibt aktuell genügend Gas, auch ohne Russland. Wenn der nächste Winter nicht extrem kälter wird als der jetzige, dann haben wir kein Problem."

Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, sieht das jedoch anders. "Beim Thema Versorgungssicherheit sind wir noch nicht über den Berg", sagte er der "Rheinischen Post". Trotz gesunkener Gaspreise seien die Energiekosten für viele Betriebe weiterhin hoch.

Hat die Kernkraft auf den Strompreis einen Einfluss?

Ja, sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm: "Je mehr Kraftwerkskapazität zur Verfügung steht, desto niedriger sind die Strompreise", erklärt sie im ZDF. Man müsse "das Stromangebot ausweiten, sodass das große Stromangebot auf die Nachfrage trifft und dadurch der Preis nach unten gedrückt" werde.

Können die Kernkraftwerke überhaupt weiter betrieben werden?

Dafür fehlen neue Brennelemente und Personal. Außerdem müssten neue Sicherheitsprüfungen, die seit 2019 fällig sind, durchgeführt werden. Selbst die Betreiber halten einen Weiterbetrieb für unmöglich. "Für eine weitere Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke ist es zu spät", sagte der EnBW, Georg Stamatelopoulos der "Süddeutschen Zeitung". "Es gibt diese Industrie in Deutschland einfach nicht mehr, die haben wir über zehn Jahre zurückgebaut."

Und warum bestellen wir nicht einfach neue Brennelemente?

Der Hauptgrund ist die Abhängigkeit von Russland. Ein Fünftel des in Deutschland verwendeten Kernbrennstoffs kommt aus Russland - ein weiteres Fünftel aus Kasachstan. "Aus unserer Sicht sind wir bei den Kernkraftwerken und bei der Nukleartechnologie eigentlich noch stärker abhängig von Russland als bei Gas oder bei Öl", sagte Anke Herold, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Öko-Instituts, im Deutschlandfunk.

Wie geht es den Nachbarländern, die noch Kernkraftwerke betreiben?

In Frankreich sind noch viele Kernkraftwerke am Netz - und es gibt keine Pläne, dies in naher Zukunft zu ändern. Doch die Abhängigkeit von der Atomkraft hat im deutschen Nachbarland immer wieder zu Versorgungsengpässen geführt. So auch im vergangenen Sommer, als viele marode Atomkraftwerke vom Netz genommen werden mussten und obendrein eine Dürre einige Kraftwerke zur Pause zwang.

Könnte es nun doch zu einem Weiterbetrieb kommen?

Das ist eher unwahrscheinlich - aber nicht unmöglich. Dazu müsste die Bundesregierung ein neues Gesetz verabschieden oder das bestehende Atomgesetz erneut ändern. Vor allem die FDP ist für den Weiterbetrieb der Kernkraft. Sie wird auch von der Opposition unterstützt. So bekräftigte Spahn im "Frühstart", dass seine Fraktion die Liberalen bei einem solchen Gesetzentwurf unterstützen würde. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass es für die von Spahn angestrebte Einsatzreserve bis mindestens 2024 eine Mehrheit im Bundestag geben würde.

Was sagt die Bevölkerung zum Atomausstieg?

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28 Prozent der Bundesbürger finden den endgültigen Atomausstieg laut aktuellem RTL/ntv Trendbarometer richtig. Zwei Drittel finden den Ausstieg hingegen nicht richtig und sind der Meinung, dass die drei Atomkraftwerke noch länger zur Stromerzeugung genutzt werden (43 Prozent) oder dass sogar auch noch einige der stillgelegten Atomkraftwerke wieder Strom produzieren sollten (25 Prozent). Für eine endgültige Abschaltung sprechen sich mehrheitlich nur die Anhänger der Grünen (65 Prozent) aus.

Was passiert direkt nach der Abschaltung?

Auch nach der Trennung der Kraftwerke vom Netz und dem Stopp der Kernspaltung müssen die Reaktoren weiter gekühlt sowie alle für diesen Betriebszustand relevanten Systeme und Komponenten vorerst weiterhin instandgehalten werden. Zunächst werden in den Tagen nach der Abschaltung die pro Kraftwerk 193 Brennelemente aus dem Reaktorkern in wassergefüllte Lagerbecken gebracht.

Wie geht es in der Folgezeit weiter?

Danach kann nach und nach mit einem Rückbau der Anlagen begonnen werden, wofür jeweils eigene Genehmigungen erforderlich sind. Die Brennelemente werden nach einer Abklingzeit in Atommüll-Zwischenlager an den Kraftwerksstandorten verbracht. Bis zur Wiederherstellung einer "grünen Wiese" dürften dort jeweils etliche Jahre vergehen. Umweltministerin Steffi Lemke rechnet damit, dass noch 30.000 Generationen mit dem Atommüll werden leben müssen.

Quelle: ntv.de, mit AFP und dpa

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