Moskaus Kriegswirtschaft boomt "Die Russen konsumieren, als wäre es ihr letzter Tag auf Erden"
24.06.2024, 18:16 Uhr Artikel anhören
Trotz hoher Inflation ist die russische Bevölkerung in Konsumierlaune - auch weil die Löhne steigen.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Die westlichen Sanktionen schaden Russlands Wirtschaft. Dennoch erlebe die einen Aufschwung, sagt Alexandra Prokopenko. Sie ist sich sicher, dass der Boom nur von kurzer Dauer sein wird. Prokopenko war bis April 2022 als Beraterin der russischen Zentralbank tätig. Sie kündigte aus Protest gegen Russlands Überfall der Ukraine.
ntv.de: Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben sich auf ein neues, nunmehr 14. Sanktionspaket geeinigt. Es sieht unter anderem Sanktionen gegen den Umschlag von russischem Flüssiggas in der EU vor. Welchen Schaden haben die EU-Sanktionen für die russische Wirtschaft insgesamt angerichtet?
Alexandra Prokopenko: Die Situation ist paradox. Einerseits behindern die Sanktionen eindeutig die wirtschaftliche Entwicklung Russlands. Andererseits schützen sie den russischen Markt vor bestimmten externen Schocks, da der Kreml nun in die heimische Wirtschaft investiert. Nie zuvor wurde ein so großes Land in einer Phase intensiver Globalisierung so stark sanktioniert wie Russland. Jetzt lernen sowohl die westlichen Länder als auch Russland aus dieser Situation. Russland lernt, wie man Sanktionen vermeidet und wie man mit den Embargos leben kann. Die EU und die USA lernen, wie man Sanktionen verhängt und vor allem, wie man sie durchsetzt. Das 14. Sanktionspaket ist für sich genommen keine Wunderwaffe. Aber es zieht die Schlinge zweifellos enger, vor allem im Hinblick auf das Gasunternehmen Novatek, den einzigen Lieferanten von russischem Flüssiggas. Das Unternehmen muss jetzt über neue Transportrouten für sein LNG nachdenken und das gesamte Geschäftsmodell überdenken.
Es stellt sich heraus, dass Russland, insbesondere das Finanzsystem, hervorragend auf die Sanktionen vorbereitet war. Hat Moskau mit den Sanktionen gerechnet?
Ich denke schon, zumindest mit einigen Sanktionen. Vor Beginn der Invasion gab es Stresstests für das russische Finanzsystem und für Unternehmen. Bereits nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 war klar, dass der Westen den Zugang zum internationalen Interbankenzahlungssystem SWIFT verweigern wollte. Die Zentralbank war darauf vorbereitet und entwickelte seit 2014 eine inländische SWIFT-Alternative - das Financial Messaging System of the Bank of Russia (SPFS). Für Banken innerhalb Russlands ist es obligatorisch, dieses System für interne Transaktionen zu nutzen. Es milderte den Schlag der Sanktionen im Jahr 2022 ab. Die Sanktionen gegen SPFS waren Teil des 14. EU-Sanktionspakets. Auch diese Sanktion war keine Wunderwaffe. Aber einige Sekundärsanktionen - die gegen Moskaus Handelspartner - werden der russischen Wirtschaft wahrscheinlich schaden. So müssen sich beispielsweise Banken in Kasachstan nun entscheiden, ob sie SWIFT für den Anschluss an das europäische Finanzsystem nutzen oder weiterhin mit den Russen zusammenarbeiten wollen. Dies schränkt Russlands Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit ein und erhöht seine Kosten.
Warum treffen viele Sanktionen die russische Wirtschaft nicht so hart wie erwartet?
Das Hauptproblem mit den Sanktionen war, dass sie mit der Absicht verhängt wurden, eine schnelle Wirkung zu erzielen. Der Krieg dauert schon fast zweieinhalb Jahre und auf diese lange Dauer waren die Sanktionen nicht ausgelegt. Außerdem reagierten die russische Regierung und die Zentralbank zeitnah und professionell. Damit hatte der Westen nicht gerechnet, weil Russland so viele Emotionen in seiner Außenpolitik gezeigt hatte. Also wurden auch emotionale Reaktionen auf die Sanktionen erwartet. Das war nicht der Fall. Vielmehr wurde rein technokratisch entschieden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Sanktionen funktionieren nicht so, wie zu Kriegsbeginn erwartet wurde. Sie müssen deshalb nachgeschärft werden.
Gibt es Sanktionen, auf die Russland nicht vorbereitet wäre und die es hart treffen könnten?
Das ist kompliziert, denn Sanktionen betreffen nicht nur das Land, gegen das sie verhängt wurden, sondern auch die andere Seite. Jedes Patentrezept gegen Moskaus Wirtschaft wäre auch für den Westen teuer. Die Gestaltung der Energiesanktionen ist ein gutes Beispiel dafür. Die USA sind offensichtlich froh, dass Russland sein Öl verkaufen kann - zumindest an Indien und China. Moskau umgeht die westlichen Sanktionen mithilfe von Schattenflotten. Die westlichen Länder lassen Russland das durchgehen, weil sie natürlich nicht wollen, dass russisches Öl vom Markt genommen wird, denn das würde es auch für sie teurer machen. Russland ist ein sehr großer Öllieferant. Wenn die Menge, die es liefert, vom Markt genommen wird, wird der Ölpreis für alle steigen, auch für die Amerikaner und Europäer, und die Inflation wird sich damit beschleunigen.
Wie geht es der russischen Bevölkerung wirtschaftlich?
Die Russen konsumieren, als wäre es ihr letzter Tag auf Erden. Die Inflation ist hoch, aber nicht so ein Riesenproblem wie noch vor zehn Jahren. Die Löhne steigen mit der Inflation und sogar schneller als diese. Auch hier ist die Situation paradox. Auf der einen Seite haben die Russen mehr Geld und konsumieren mehr. Auf der anderen Seite zwingt die Inflation die russische Zentralbank dazu, die Zinsen hochzuhalten. Russland hat jetzt einen Leitzins von 16 Prozent innerhalb der letzten sieben Monate. Das ist nicht normal. Eine gesunde und wachsende Wirtschaft braucht keinen zweistelligen Leitzins.
Warum ist die Nachfrage in Russland so hoch?
Die Nachfrage wird vom Staat angekurbelt, zum Beispiel durch vergünstigte Kredite. Auch das ist kein Merkmal einer gesunden Wirtschaft. Russlands Handel verschiebt sich hin zu Partnern in östlichen Ländern. Die westlichen Produkte, die fehlen, versucht Russland zu substituieren. Das funktioniert aber kaum, da dafür westliche Technik und Maschinen fehlen - aufgrund von Sanktionen im Bereich der Hochleistungstechnologie. Auch Gebrauchtmaschinen und -werkzeugen aus Asien können westliche Technologie nicht ersetzen.
Präsident Wladimir Putin setzt momentan ganz auf Kriegswirtschaft. Russland hat noch eine große Rüstungsindustrie aus Sowjetzeiten und baut sie aus. Wie nachhaltig ist diese Strategie?
Ich erwarte in den nächsten Jahren keinen Kollaps, auch falls Russland seinen Angriffskrieg in der Ukraine beenden sollte. Dabei meine ich einen Kollaps in dem Sinn, dass es ernsthafte Engpässe, Defizite oder lange Schlangen vor Banken und Wechselstuben gibt. Aber Russlands Wette auf seine Militärindustrie ist riskant, weil sie nicht nachhaltig ist. Mittelfristig sind Probleme zu befürchten, weil der militärisch-industrielle Komplex immer mehr Investitionen erfordert. Wenn dieser Komplex der Motor der Wirtschaft sein soll, braucht er eine konstante Nachfrage. Die Quelle der Nachfrage für die Produkte des militärisch-industriellen Komplexes ist die Armee selbst. Also braucht Russland für seine Wirtschaft den ständigen Krieg.
Was würde passieren, wenn die Kämpfe mit der Ukraine zu Ende gehen?
Der Krieg ist dann zwar vorbei, aber Russland braucht immer noch die Nachfrage, denn seine gesamte Wirtschaft dreht sich um diesen militärischen Komplex. Die Binnennachfrage nach militärischen Gütern wäre nach dem Kriegsende gering. Auf Export kann Russland nicht setzen. Seine Waffen können nicht mehr mit der westlichen Konkurrenz mithalten – durch die Sanktionen fehlt die Hochleistungstechnologie. Moskau muss sich weiterhin auf die Binnenwirtschaft konzentrieren- auch wegen des Narratives des Kremls, wonach Russland nur von Feinden umzingelt ist. Wenn die Nachfrage ausbleibt, muss der militärisch-industrielle Komplex schließen. Den Beschäftigten im militärischen Sektor muss der Kreml dann sagen: Okay, das war’s, vielen Dank. Jetzt müssen wir die Wirtschaft wieder transformieren. Das würde nicht funktionieren.
Mit Alexandra Prokopenko sprach Lea Verstl
Quelle: ntv.de