Kann sich an Wahlurne auswirkenEinkommensungleichheit in Deutschland ist so groß wie nie

Deutschland ist noch immer eines der wohlhabendsten Länder weltweit. Aber auch hierzulande gibt es Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen - einer Studie zufolge ist sie bei letztem so groß wie nie zuvor. Vor allem eine Gruppe bekommt das besonders zu spüren.
Sowohl die Einkommensungleichheit als auch die Quote der in Armut lebenden Menschen hat in Deutschland einen Höchstwert erreicht. Zu diesem Ergebnis kommt der "Verteilungsbericht" des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Demnach stieg der sogenannte Gini-Koeffizient, ein Maß für die Einkommensverteilung, auf einen Höchstwert von 0,310 im Jahr 2022 - 2010 lag er noch bei 0,282.
Der Gini-Koeffizient reicht theoretisch von null bis eins: Je höher er liegt, desto größer ist die Ungleichheit. Bei einem Wert von Null haben der Theorie nach alle Menschen dasselbe Einkommen oder Vermögen - hier ist von Gleichverteilung die Rede. Bei einem Wert von Eins besitzt ein Mensch alles, alle anderen hingegen nichts. Diese Bandbreite macht laut WSI deutlich, "dass auch vermeintlich kleine Änderungen des Koeffizienten erhebliche Bedeutung haben".
Deutlich zugenommen hat der Auswertung zufolge seit 2010 auch die Einkommensarmut: Die Quote armer Haushalte - die ein verfügbares Einkommen von weniger als 60 Prozent des Median- oder mittleren Einkommens haben - stieg von 2010 bis 2022 von 14,4 auf 17,7 Prozent. Relativ noch stärker breitet sich die "strenge" Armut aus: 2010 waren 7,9 Prozent aller Haushalte davon betroffen, 2022 bereits 11,8 Prozent. Diese Haushalte haben weniger als 50 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung.
Der Anteil der einkommensreichen Haushalte - mehr als 200 Prozent des mittleren Einkommens - blieb mit einer Schwankung von 7,6 Prozent 2010 bis 7,2 Prozent im Jahr 2022 hingegen weitgehend unverändert. Auch der Anteil der sehr einkommensreichen Haushalte mit einem dreifachen des Medianeinkommens blieb stabil: Er lag 2010 bei 1,9 und 2022 bei 2,0 Prozent.
Die untere Mitte bricht weg
Die Forschenden betrachteten auch die Mittelschicht. Ein Einkommen von 100 bis knapp unter 200 Prozent des Medians hatten demnach über den gesamten Untersuchungszeitraum rund 42 Prozent der Haushalte. Dagegen wurde die "untere Mitte" mit 60 bis 100 Prozent des Medians etwas kleiner - der Anteil sank von 35,6 auf 32,3 Prozent. Studienautorin Dorothee Spannagel folgert daraus, "dass sich die untere Mitte vor allem verkleinert hat, weil Menschen in Armut abgerutscht sind, weniger, weil sie in die obere Mitte aufgestiegen sind".
Da aufgrund des Kriegs in Syrien seit 2015 rund eine Million Geflüchtete nach Deutschland kamen, stellt sich die Frage, ob das einen Einfluss auf die Zahlen hat. Dazu schreiben die Studienautoren: "Der Trend zu mehr Ungleichheit zeigt sich unabhängig von der Fluchtmigration im letzten Jahrzehnt, er fällt allerdings schwächer aus, wenn man die Einkommensdaten geflüchteter Menschen bei der statistischen Analyse ausklammert. Tut man das, zeigt sich auf niedrigerem Niveau ebenfalls ein deutlicher Anstieg des Gini-Wertes."
Das WSI sieht neben einer wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit auch eine Zunahme der gesellschaftliche Polarisierung. Dabei gelte: Je niedriger das Einkommen, desto geringer fällt etwa das Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen aus. So vertraut knapp ein Viertel beziehungsweise knapp ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze Polizei oder Gerichten nicht oder nur in geringem Maße.
Und obwohl die Beteiligung bei der Bundestagswahl 2025 in allen Einkommensgruppen deutlich höher war als bei den Bundestagswahlen davor, lag sie den Forschenden zufolge auch dieses Mal mit sinkendem Einkommen niedriger. In Armut lebende Erwerbspersonen gaben dabei ihre Stimme überdurchschnittlich oft der AfD oder der Linken.
"Steigt die Ungleichheit der Einkommen, steigt gleichzeitig auch die Ungleichverteilung der Teilhabemöglichkeiten", kommentierte Spannagel die Ergebnisse. Wie sich die Konzentration der Einkommen entwickelt, habe somit "eine eminent gesellschaftspolitische Bedeutung". Die Wissenschaftlerin fordert deshalb eine bessere Arbeitsmarkt-Integration von Menschen an den prekären Rändern des Arbeitsmarktes durch eine bessere Qualifizierung und Beratung. Zudem spricht sie sich für eine stärkere Besteuerung höchster Einkommen und Vermögen aus - als Einnahme für die öffentliche Hand und "um dem Ungerechtigkeitsempfinden vieler Menschen entgegenzutreten".