Nach acht Jahren Sparkurs hat Athen seine finanzielle Freiheit wieder. Das Land muss nicht nur einen riesigen Berg Schulden, sondern einen Haufen Probleme bewältigen: Die Angst vor der Staatspleite und dem Euro-Crash ist alles andere als vorbei.
Klaus Regling hat an diesem Montag den undankbarsten Job von allen Griechenland-Optimisten. Als Chef des Rettungsschirms ESM war der Karrierebeamte acht Jahre lang so etwas wie der oberste Kassenwart Griechenlands. Heute entlässt er das Land aus den EU-Hilfsprogrammen in die finanzielle Freiheit. Und Regling sagt: "Das ist ein Tag zum Feiern." Er muss eines der größten Rettungsprogramme aller Zeiten als Erfolg verkaufen, obwohl es daran nur wenig Schönzureden gibt.

Nach dem Ende der Finanzhilfen dürfte in Griechenland der Widerstand gegen die Sparpolitik wachsen.
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Drei Hilfspakete mit insgesamt fast 290 Milliarden Euro hat Athen von der Euro-Ländern und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) bekommen. Griechenlands Regierung und Gesellschaft haben sich zwar mit viel Leid aus der Krise geackert. Nach einem Jahrzehnt Depression wächst die Wirtschaft wieder. Der Haushalt ist saniert: Statt Defiziten von 15 Prozent weist Athen Überschüsse aus. Griechenland bekommt an den Märkten wieder Geld und kann auf eigenen Beinen stehen. Doch trotz der Fortschritte bleiben die Hürden für das Land gewaltig.
"Der Abschluss des dritten Griechenlandprogramms ist ein wichtiger Zwischenschritt - nicht mehr und auch nicht weniger", sagt Unionsfraktionsvize Ralph Brinkhaus. Griechenland sei "auf Stützrädern" aus dem Kreditprogramm entlassen worden, meint FDP-Fraktionsvizechef Christian Dürr. "Die Griechenland-Krise ist nicht beigelegt, sie ist nur auf später vertagt worden", sagt der Schweizer Wirtschaftsprofessor Charles Wyplosz. Damit die Rettung in den kommenden Jahren gutgeht, braucht Athen jede Menge Glück.
Athen braucht ein Wachstumswunder
Das größte Risiko ist die griechische Regierung selbst. Sie muss den von den EU-Ländern aufgezwungenen Sparkurs beibehalten. Um den gigantischen Schuldenberg von 180 Prozent der Wirtschaftsleistung abzutragen, muss Athen bis 2022 einen Haushaltsüberschuss von 3,5 Prozent vor Zinsen und danach von 2 Prozent vor Zinsen schaffen - bis 2060.
Wenn Griechenland einen Schuldenschnitt vermeiden will, muss es nichts weniger als ein historisches Wunder vollbringen. Denn für die griechische Bevölkerung bedeuten die Sparvorgaben auf Jahrzehnte dauerhafte Rentenkürzungen, Lohnsenkungen und Steuererhöhungen. Auch die griechischen Wähler dürften das nicht vierzig Jahre mitmachen. Die kommenden Regierungen in Griechenland dürften nach einer Dekade der Entbehrungen nicht nur versucht sein, mehr Geld für soziale Wohltaten auszugeben. Sie müssen die Wirtschaft ankurbeln, wenn sie die Schulden begleichen wollen.
Als Trostpflaster haben die Euro-Retter den Griechen für den Neustart an den Finanzmärkten ein Geldpolster von mehr als 24 Milliarden Euro mitgegeben, ungenutzte Mittel aus dem dritten Hilfspaket. Es reicht laut ESM, um Griechenlands Geldbedarf für knapp zwei Jahre zu decken. Das ist alles, was in den kommenden 40 Jahren zwischen Griechenland und der Staatspleite steht.
Nicht nur die finanziellen Probleme sind gewaltig. "Griechenland hinkt den anderen EU-Ländern in einigen Wettbewerbsindikatoren hinterher", warnt der IWF. Korruption und Vetternwirtschaft sind immer noch weitverbreitet. Die Verwaltung ist veraltet. Die Arbeitslosigkeit ist zwar auf den niedrigsten Stand seit 2011 gesunken, liegt aber noch immer auf erschreckendem Niveau: Jeder fünfte Grieche hat weiter keinen Job. Der IWF rechnet damit, dass die Arbeitslosenquote auch in fünf Jahren noch fast doppelt so hoch liegen wird wie im EU-Durchschnitt.
Es ist so gut wie sicher, dass die derzeit gute Konjunktur in Griechenland in den nächsten vierzig Jahren Rücksetzer erleiden wird. Die schwelenden Handelskriege der EU mit den USA, der Konflikt mit Russland und die ungelösten Schuldenkrisen anderer Euro-Länder wie Italien erhöhen die Gefahr noch. "Auf irgendeine Weise wird es explodieren", prophezeit Wirtschaftsforscher Wyplosz. "Griechenland wird bereits deutlich vor 2032 wieder in der Krise stecken".
Die Euro-Retter müssen Geduld haben
Denn nicht nur in Athen, auch im Rest Europas kann bis dahin viel passieren. "Griechenland wird nicht alleine sein. Der ESM wird ein langfristiger Partner für Griechenland sein", verspricht ESM-Chef Regling. Für Griechenland ist das Segen und Fluch zugleich: Auch ohne Kreditprogramm werden die Haushaltskontrolleure der EU wie bisher alle drei Monate nach Griechenland reisen, um eine Bestandsaufnahme zu machen.
Athens Gläubiger sind auf Gedeih und Verderb an das Schicksal des Landes gekettet. Der ESM hält mehr als die Hälfte aller griechischen Staatsschulden: "Unsere Interessen sind identisch mit denen Griechenlands", sagt Regling. Die anderen Euro-Länder würden bei einer Staatspleite in Athen nicht nur viel Geld verlieren. Auch der Euro könnte ins Wanken geraten. Sie werden Griechenland also auch künftig wahrscheinlich nicht den Geldhahn zudrehen.
Doch ewig gilt das womöglich nicht. Was, wenn sich nicht in Griechenland, sondern im Rest Europas der politische Wind dreht? Was, wenn populistische Regierungen in Italien oder Frankreich künftig nicht mehr mitziehen, sollte Griechenland nochmals frische Kredite brauchen, um seine alten Schulden zurückzuzahlen? Was, wenn eine etwaige deutsche Regierung mit AfD-Beteiligung die Geduld verliert und ihr Geld früher zurückhaben will als geplant?
Die Märkte dürfen keine Panik bekommen
Griechenland stünde dann unmittelbar wieder vor der Staatspleite. Wegen der erdrückenden Schuldenlast wird jede politische Krise in dem Land oder bei seinen Geldgebern automatisch zur Zahlungskrise. Und umgedreht wird jeder kleinste Zweifel der Investoren an Athens Zahlungsfähigkeit die griechische Regierung ins Wanken bringen. Griechenland muss diesen gefährlichen Balanceakt zwischen Märkten und Politik über Jahrzehnte durchhalten, obwohl es mehr als genug Panik-Potential gibt.
Neben dem Schuldenberg der Regierung und den Strukturproblemen des Landes sitzen auch noch die Banken auf einem Haufen fauler Kredite. Laut Statistik der griechischen Notenbank ist fast jedes zweite Darlehen ausfallgefährdet - etwa das Zehnfache des europäischen Durchschnitts. Sollten Griechenlands Banken in den kommenden Jahren wieder ins Wanken geraten, müsste die Regierung sie retten. Und könnte dann wohl alle Sparpläne über Bord werfen. Spätestens dann dürfte die Debatte um einen Schuldenschnitt für Athen wieder aufflammen.
Quelle: ntv.de