Wirtschaft

Teure Kontrolle von Lieferketten "Jeder Deutsche beschäftigt 30 bis 50 Sklaven"

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In vielen Staaten ist es üblich, dass auch Kinder arbeiten und Geld verdienen.

(Foto: picture alliance/dpa)

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Kein Unternehmen will mit Kinderarbeit oder Zwangsarbeit in Verbindung gebracht werden. Aber in globalen Exportnationen wie Deutschland sind Lieferketten lang und unübersichtlich. Studien zufolge beschäftigten deutsche Unternehmen daher indirekt erschreckend viele Opfer moderner Sklaverei. Das neue Lieferkettengesetz soll Abhilfe schaffen. Es verpflichtet Unternehmen seit dem Jahreswechsel dazu, selbst die Lieferanten ihrer Lieferanten zu kontrollieren. Ein gut gemeinter, aber auch teurer Alleingang, denn bislang gilt die Regelung nur in Deutschland, befindet die Juristin und Handelsexpertin Anahita Thoms. "Es bringt wenig für die Opfer, verursacht aber großen Bürokratieaufwand", sagt sie im "Klima-Labor" von ntv.

ntv.de: Das Lieferkettengesetz erweckt den Eindruck, als wären Sklaverei, Kinderarbeit oder auch ökologischer Raubbau Alltag für deutsche Unternehmen, deren Zulieferer im Ausland sitzen. Ist das so? Braucht es ein Gesetz, um solche Dinge zu verhindern?

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Anahita Thoms ist Partnerin der Großkanzlei Baker McKenzie und dort Expertin für internationalen Handel.

Anahita Thoms: Es gibt Studien und auch ein Online-Tool, die untersuchen oder errechnen, wie viel Sklavenarbeit hinter dem Lebensstil eines jeden steckt - zum Beispiel durch die Kleidung, die man trägt, durch die Handys, die man benutzt, oder durch das Essen, das wir zu uns nehmen. Man kann den Einzelfall diskutieren, aber die Angaben schwanken zwischen 30 und 50 Sklaven pro Person. Deshalb muss man sich mit diesem Thema ernsthaft beschäftigen. Es ist richtig, dass kriminelle Energie eine genaue Überprüfung teilweise erschwert. Gleichzeitig ist auf freiwilliger Basis bedauerlicherweise nur sehr wenig passiert. Deswegen gibt es jetzt dieses Gesetz, mit dem aber nur wenige Menschen zufrieden sind. Die einen finden es nicht ausreichend, die anderen zu aufwendig.

Was muss man sich denn unter dem Begriff "Sklaverei" heutzutage vorstellen?

Das Lieferkettengesetz

Das Lieferketten­sorgfaltspflichten­gesetz verpflichtet Unternehmen in Deutschland, die mehr als 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen, seit dem 1. Januar 2023 zu bestimmten Sorgfaltspflichten. Beispielsweise müssen sie beim Einkauf im Ausland darauf achten, dass Vorprodukte ohne Sklaverei, Kinderarbeit oder ökologischen Raubbau entstanden sind. Solche Verstöße müssen nicht nur bei direkten, sondern auch bei mittelbaren Zulieferern - also den Lieferanten der Lieferanten. Ab 2024 greift das Gesetz bereits ab 1000 Mitarbeitern. Verstöße können mit Bußgeldern bestraft werden, die bis zu zwei Prozent des weltweiten Jahresumsatzes betragen.

Sklaverei kommt in den unterschiedlichsten Formen vor. Wir reden von Kinderarbeit. Wir reden von Arbeitsverhältnissen, in denen Arbeitnehmern der Pass weggenommen wird. Wir reden von Personen, die für einen sehr niedrigen Lohn und unter Androhung von Gewalt in menschenunwürdigen Verhältnissen in Fabriken oder Minen arbeiten. Auch Zwangsprostitution fällt unter moderne Sklaverei. Der Fokus des Gesetzes ist aber die Lieferkette.

Und wie geraten deutsche Unternehmen in Verbindung mit diesen Praktiken? Sie haben kriminelle Energie bereits angesprochen, aber es kann doch kein Unternehmer Interesse daran haben, dass in seiner Lieferkette solche Dinge geschehen.

Jeder, mit dem ich spreche, ist gegen Kinderarbeit und Zwangsarbeit. Aber eine Lieferkette enthält viele Unwägbarkeiten, auf die es zwei unterschiedliche Perspektiven gibt: NGOs verlangen, dass Unternehmen vor Ort sein und ganz genau gucken müssen, was passiert. Die Unternehmen sagen, dass sie das nicht leisten können und, dass es staatliche Aufgaben sind.

Deswegen macht das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz auch einen Unterschied zwischen dem eigenen Geschäftsbereich, dem unmittelbaren Zulieferer und dem mittelbaren. Denn natürlich kann ich in meiner Fabrik auf den Arbeitsschutz achten. Ich kann über meine Verträge auch sehr viel Druck auf den unmittelbaren Zulieferer ausüben. Komplex wird es bei mittelbaren Lieferanten, denn das Gesetz verlangt, dass man bei "substantiierter Kenntnis" dieser Praktiken tätig werden muss. "Kenntnis" umfasst dabei zum Beispiel bereits Presseartikel zu einer bestimmten Region.

War das im Vorfeld der größte Diskussionspunkt?

Es wurden diverse Punkte heftig diskutiert. Dazu gehört, wie weit die Risikoanalyse reicht, denn das kann ein Wettbewerbsnachteil für deutsche Unternehmen sein, solange andere Länder oder auch die Europäische Union kein ähnliches Gesetz verabschieden. Für deutsche Unternehmen ist der Bürokratieaufwand auf jeden Fall höher.

Und damit auch die Kosten.

Wo finde ich das Klima-Labor?

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Richtig. Als Ultima Ratio kann das für deutsche Unternehmen sogar bedeuten, dass sie sich aus bestimmten Regionen zurückziehen müssen.

Vorerst gilt das Gesetz ja für Unternehmen, die mehr als 3000 Mitarbeiter haben. Angenommen, es sind 3050 - wäre die einfachste Lösung dann nicht, 50 Mitarbeiter zu entlassen, um sich von diesen Pflichten zu befreien?

Theoretisch besteht diese Möglichkeit. Man muss auch prüfen, ob und für wie lange Leiharbeiter beschäftigt werden oder ob die Angestellten ins Ausland entsandt sind. Gesetze sind typischerweise so konzipiert, dass man keinen Umgehungstatbestand kreieren darf, aber man kann natürlich nicht jeden Einzelfall betrachten. In der Praxis beschäftigen sich aber schon jetzt viel kleinere Firmen mit den neuen Anforderungen, denn sie sind häufig ebenfalls Lieferant großer Unternehmen. Deswegen bedeutet das Gesetz auch für kleine und mittelständische Betriebe mehr Bürokratieaufwand.

Ist dieses Gesetz denn wirklich eine Hilfe für die Opfer moderner Sklaverei? Der Arbeitsplatz mag noch so schlecht sein, aber oft ist er die einzige Möglichkeit, überhaupt irgendwie Geld zu verdienen. Wenn ein deutsches Unternehmen diese Region oder diesen Zulieferer verlässt, geht der Arbeitsplatz auch verloren.

Man kann darüber diskutieren, ob den Opfern mit diesen Alleingängen wirklich geholfen ist. Ich meine, wir sollten unsere Kraft und unsere Energie zumindest für ein EU-weites Gesetz einsetzen. Dann sagt eine gesamte Region, dass sie ihre Lieferketten von Zwangsarbeit, Kinderarbeit, aber auch Umweltbelastungen wie Quecksilber befreien will. Im Rahmen von Freihandelsabkommen kann man diese Regelungen anschließend ausweiten und global durchsetzen. Globale Phänomene brauchen globale Antworten.

Wie groß würden Sie denn den Wettbewerbsnachteil einschätzen, der durch diesen Alleingang für deutsche Unternehmen entsteht? Denn in den USA versuchen vor allem konservativ und republikanisch geprägte Bundesstaaten derzeit sogar das Gegenteil: Sie wollen die Regulierung von Kinderarbeit lockern, damit mehr Jugendliche arbeiten können. Und dabei geht es nicht ums Zeitungsaustragen, sondern um Autobauer, Fleischfabriken und Baustellen - also extreme Fälle.

Die Vorstellung ist ja meistens, dass so etwas ganz weit weg in irgendeinem asiatischen oder afrikanischen Land passiert. Das ist natürlich nicht richtig. Wir kennen aus den USA auch das Erdbeerpflücken und aus Städten wie New York das Thema Nagelstudios. Es gibt viele Beispiele überall auf der Welt, die, wenn man das nüchtern betrachtet, jede Diskussion zur Einführung eines EU-Gesetzes erschweren. Einige Politiker aus EU-Mitgliedstaaten verweisen schnell auf die USA. Ich wünschte, ich hätte eine Lösung dafür und könnte sagen: So und so machen wir das. Im Moment müssen wir festhalten, dass wir uns in einer Phase befinden, die besonders herausfordernd ist.

Ich bin dennoch optimistisch, weil man das Thema auch aus der Konsumenten-Perspektive betrachten muss: Immer mehr Menschen möchten wissen, wie produziert wird, oder für einen Arbeitgeber arbeiten, der nichts mit diesen Themen am Hut hat. Ich ahne aber jetzt schon ihre nächste Frage: Wie viel sind wir bereit, dafür zu bezahlen? Das aber hat nur bedingt etwas mit moderner Sklaverei zu tun. Das gilt auch für Bio-Produkte.

Der Absatz von Bio-Lebensmitteln ist letztes Jahr deutlich gesunken.

Genau. Wenn Preise durch die Inflation steigen, geben Menschen weniger Geld für nachhaltige Produkte aus. Das meine ich mit der sehr herausfordernden Phase.

Genau in diese Phase fällt aktuell eine Debatte um das europäische Gesetz, das voraussichtlich im Mai verabschiedet werden und strenger als die deutsche Version sein soll. Gerade Deutschland soll versuchen, dieses Gesetz aufzuweichen.

Wenn das europäische Lieferkettengesetz wie geplant kommt, müsste das deutsche tatsächlich angepasst werden. Zum Beispiel soll die europäische Regelung eine zivilrechtliche Haftung für Firmen enthalten. Diese Haftung wurde aus der deutschen Regelung gestrichen. Deshalb gibt es einige starke Stimmen in Deutschland, die sagen: Wir wollen am liebsten eine Kopie unseres Gesetzes.

Wie sehen Sie das? Ist das deutsche Gesetz stark genug?

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Die Sorgfaltspflicht bei den Lieferketten ist weitreichend. Manche unserer Mandanten haben Zehntausende Lieferanten. Diese Lieferkette zu verstehen, ist eine riesige Herausforderung. In dieser Hinsicht ist das deutsche Gesetz alles andere als ein Leichtgewicht. Aber natürlich könnte das Lieferkettengesetz nach dem jahrelangen Hin und Her bei den Verhandlungen an der einen oder anderen Stelle noch klarer sein. Das Wichtigste ist aber: Je länger wir die EU-Version verzögern, desto länger sind wir in Deutschland allein mit einem Gesetz, das großen Bürokratieaufwand verursacht und wenig für die Opfer bringt.

Mit Anahita Thoms sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch ist zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet worden.

Klima-Labor von ntv

Was hilft gegen den Klimawandel? "Klima-Labor "ist der ntv Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen und Behauptungen prüfen, die toll klingen, es aber selten sind. Klimaneutrale Unternehmen? Gelogen. Klimakiller Kuh? Irreführend. Kunstfleisch? Das Grauen 4.0. Aufforsten im Süden? Verschärft Probleme. CO2-Preise für Verbraucher? Unausweichlich. LNG? Teuer.

Das Klima-Labor - jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+ Musik, Apple Podcasts, Amazon Music, Google Podcasts, Spotify, RSS-Feed

Quelle: ntv.de

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