Balkonkraftwerk schlägt Politik "Wer soll diese Revolution verbieten? Die Strompolizei?"
10.10.2025, 16:35 Uhr Artikel anhören
Für die Energierevolution sind keine Demonstrationen notwendig. Ein Balkonkraftwerk reicht.
(Foto: picture alliance / imageBROKER)
"Energiewende" verkommt in Deutschland zum Kampfbegriff. Tim Meyer findet das schade, denn die globale Entwicklung ist ihm zufolge eindeutig: Erneuerbare Energien sind keine Ideologie, sondern eine industrielle Revolution: "Eine neue Technologie verdrängt eine alte, weil sie besser ist", sagt der Energieexperte im "Klima-Labor" von ntv. Einen Gewinner hat Meyer auch schon ausgemacht: China überrollt die Welt mit sauberen Technologien. "Dummerweise kommt dieser Pfad aus der 'Öko-Ecke' und wird gerne als Spinnerei abgetan. Damit haben sich Teile der deutschen Politik in eine Sackgasse manövriert." Chancen gibt es trotzdem: Das neue Energiesystem ist komplexer als das alte. "Das beherrschen wir, damit können wir Wertschöpfung schaffen."
ntv.de: Was fällt Ihnen aktuell zum Begriff "Energiewende" ein?
Tim Meyer: Wie schade es ist, dass er so aufgeladen und fast ein Kampfbegriff ist, obwohl die weltweite Entwicklung eine eindeutige Sprache spricht: Das ist keine politische Wandlung, sondern eine stinknormale industrielle Revolution: Eine neue Technologie verdrängt eine alte. Kein Land elektrifiziert seinen Verkehr oder andere fossile Anwendungen nur für den Klimaschutz, sondern weil es billiger ist.

Tim Meyer arbeitet seit 25 Jahren als Berater und Unternehmer im Bereich der erneuerbaren Energien. Zu seinen Stationen gehören die RWTH Aachen, die Fraunhofer Gesellschaft und die Naturstrom AG. Im Juli ist sein neues Buch "Strom" erschienen.
(Foto: privat)
Wir erleben den Übergang von der Pferdekutsche zum Verbrennungsmotor?
Exakt. Es gibt aber wie früher Ängste und alle möglichen Interessenlagen, um den Wandel zu stoppen oder zu verzögern. Als die Eisenbahn aufkam, hieß es etwa: Bei mehr als 30 Kilometern pro Stunde wird es gefährlich für Menschen, bloß nicht mitfahren! Aber die weltweiten Zubauraten, die Investitionen und die Ökonomie sind eindeutig: Effizienz- und damit Kostengewinne der Erneuerbaren sind so groß, die sind ein No-Brainer.
Auch in den USA, wo Donald Trump mit aller Macht versucht, sie zu stoppen?
Trump kann diese Entwicklung bremsen, aber nicht aufhalten. Im konservativen "Petrostaat" Texas sieht man doch, wie Erneuerbare und Batteriespeicher boomen. Letztlich wirft Trump mit seiner Beratungsresistenz nur die amerikanische Wirtschaft zurück.
China hat das globale Rennen zwischen Erneuerbaren und Fossilen bereits gewonnen?
Die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre ist beeindruckend. Ich habe mir alle Fünf-Jahres-Pläne angeschaut. China hat seine Industriestrategie nüchtern kalkuliert und durchgezogen, angefangen mit den erneuerbaren Energien: Die Solarenergie wurde ins Volumen gebracht, bei Batterietechnik und im Windbereich ist China ebenfalls Markt- und Kostenführer. Im aktuellen Fünf-Jahres-Plan steht, dass man die Welt mit günstigen Top-Produkten überrollen möchte.
Wirklich?
Ja. Man will das Geld, das man reingesteckt hat, zurückverdienen. Deshalb baut China so brutale Überkapazität auf. In Deutschland heißt es dann, dass chinesische Unternehmen nichts verdienen. Das stimmt, ist aber Teil dieses blutigen Spiels. Die besten Unternehmen sollen den harten Wettbewerb überleben und größer werden.
Und später den Weltmarkt kontrollieren und die Preise für Kunden im Ausland anheben?
Solarmodule werden bereits etwas teurer, aber das ist kein Drama und China ist Stratege genug, dass es die Entwicklung nicht übertreiben wird. Mit zu hohen Preisen schafft man nur einen Anreiz, dass andere Länder eigene Fertigungskapazitäten aufbauen. Die Technologien sind aber schon jetzt so günstig, dass etwas höhere Preise die Wirtschaftlichkeit im Vergleich mit fossilen Energien nicht beeinflussen. Deswegen gibt es so viel Desinformation und Lobbying in dem Bereich: Der fossilen Industrie bricht ein gigantisches Geschäft weg.
Kann Europa von diesem Umbruch profitieren oder bleibt das ein chinesischer Erfolg?
Ja und nein. Bei der eigenen Produktion ist der Zug in einigen Bereichen abgefahren. Man kann aus Gründen der Resilienz eine eigene Fertigung für Solarmodule aufbauen, aber das wäre wahnsinnig teuer. Bei den Batterien ist der Zug auch so gut wie weg, dort kann man aber auf neue technologische Routen hoffen. Elektronik und Steuerungstechnik beherrschen wir dagegen.
Was muss man sich darunter vorstellen?
Das bekannteste Beispiel sind Wechselrichter. Die wandeln Strom von einer Spannung in eine andere um, damit wir ihn ins Netz einspeisen oder entnehmen können. Die stecken in jedem Balkonkraftwerk, in jeder Wallbox und in jedem Elektroauto. Das ist eine Schlüsseltechnologie, dafür haben wir gute Firmen. Ein weiterer Teil ist die Technik zur Erfassung von Daten und die Software zum Steuern der Systeme: Wie ist der Netzzustand? Wie sind die Marktpreise? Was sollte dieses Unternehmen oder dieser Haushalt in diesem Winkel des Stromnetzes jetzt am besten automatisiert machen?
Steuerungstechnik ist bei den Wechselrichtern wörtlich gemeint. Es geht aber auch um Unternehmen, die ihren Kunden ein Energiemanagementsystem fürs Eigenheim anbieten?
Genau. Jeder kann inzwischen billigen Solarstrom herstellen. Aber in dieses System Millionen Speicher, E-Autos und Wärmepumpen zu integrieren und zu optimieren, ist komplex. Nicht nur Deutschland erzeugt in Spitzenzeiten zu viel erneuerbaren Strom, dieses Problem haben alle Länder. Wenn das System funktionieren soll, muss man es digitalisieren und flexibilisieren. Dafür haben wir eine hervorragende Industrie.
Die Wirtschaftsberater von Roland Berger haben das Potenzial dieser dezentralen Lösungen in einer neuen Studie untersucht.
Diese Studie war wichtig: Wie kann ich das System optimieren, die Kosten für alle senken und zugleich neue Geschäfts- und Exportchancen schaffen? Denn die deutsche Debatte hat einen Denkfehler: Man nimmt an, man rettet Arbeitsplätze, wenn man die Energiewende hinauszögert. Damit erreicht man das Gegenteil. Es wird nichts modernisiert und keine neue Wertschöpfung geschaffen. Gehen durch das Verbrenner-Aus Arbeitsplätze verloren? Ja. Aber der Markt hat dieses Aus längst beschlossen. Wenn man allerdings rechtzeitig und aktiv umschwenkt, kann man als Ersatz neue Geschäftsfelder gewinnen. Das steht in keiner Studie drin. Der reine Blick auf Verluste ist idiotisch. Als könnte man die 1990er konservieren.
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Eine teure Fehleinschätzung?
Ja. Microsoft-Chef Steve Ballmer hat sich kaputtgelacht, als Apple 2007 das iPhone vorstellte. Ein Telefon ohne Tastatur? Das wird sich bei Geschäftskunden nie durchsetzen! Heute gibt es kein Smartphone mit Windows als Betriebssystem, diesen Markt hat Microsoft komplett verpennt. Dasselbe Schicksal droht den Autobauern. Die haben die E-Mobilität verschlafen und ihren größten Markt bereits verloren. In China kaufen Kunden keine deutschen Autos mehr, weil sie als altbacken gelten. Das Rennen ist entschieden. Als Exportnation sollten wir aufpassen, dass wir aus Bequemlichkeit und Überheblichkeit nicht abgehängt werden.
Wie bewerten Sie den Stand der deutschen Energiewende insgesamt?
Das Problem in Deutschland ist, dass wir Energiepolitik sehr lagerbezogen diskutieren und nicht gekoppelt an technoökonomische Entwicklungen. Die wurden im Monitoringbericht zur Energiewende wunderbar herausgearbeitet.
Es geht nicht ohne Gaskraftwerke, aber man sollte es auch nicht übertreiben?
Ja. Die Politik sagt: Wir möchten bei der Energieversorgung nicht ohne Hosenträger unterwegs sein. Deshalb hat bereits die Ampel zehn Gigawatt an neuen Gaskraftwerken auf den Weg gebracht, die später auf Wasserstoff umgestellt werden sollen. Dieser Schritt ist verständlich. Gleichzeitig benötigen wir viel weniger Gaskraftwerke, als das fossile Lager sagt. In der alten Energiewirtschaft werden Alternativen schlicht nicht berücksichtigt. Das hat seine technischen Überlegungen vor so langer Zeit gelernt, damals gab es die vielen neuen Optionen noch nicht.
Die hat einen Wissensstand von 1980?
2000 reicht als Vergleich völlig aus. Damals gab es Wind, Sonne und Batterien nicht im heutigen Volumen und erst recht nicht zu heutigen Kosten. Die Massenfertigung hat aber alles auf den Kopf gestellt. Diese Realität wird nicht von allen zur Kenntnis genommen. Teilweise fehlt das Wissen, teilweise sind es andere Interessenlagen. Wer sich ehrlich macht, wird feststellen, was im Monitoringbericht steht: In den vergangenen Jahren ist viel Richtiges passiert, wir müssen weiter aufs Tempo drücken. Dummerweise ist das aber ein Pfad, der aus der "Öko-Ecke" kommt und gerne als "Klimaspinnerei" abgetan wird. Mit dieser Darstellung haben sich Teile der Politik in eine Sackgasse manövriert, aus der sie nicht mehr herauskommen.
In welchen Fällen?
Im Koalitionsvertrag steht, dass wir unsere Gasnetze behalten und sie in Zukunft mit defossilisiertem Gas betreiben, damit alle ihre Gasheizung behalten können. Das ist Unsinn und das wird nicht passieren. Wärmepumpen werden den größten Teil der Raumwärme bereitstellen. Teile der Union wissen aber nicht, wie sie moderne Energiepolitik machen sollen, ohne zu "grün" zu klingen. Also verkünden sie aus Trotz lieber das Gegenteil.
Wir machen aber trotzdem Fortschritte?
Viel zu langsam. Im Stromsektor ist der extrem fragmentierte Netzbetrieb der Elefant im Raum: Wir haben 860 Verteilnetzbetreiber mit verschiedenen Standards und Softwaresystemen. Vieles ist nicht digitalisiert. Das kostet Kraft und Zeit. Die jetzigen Strukturen sind mit der Energiewende überfordert. Das sollte man glattziehen und vereinheitlichen, dann lösen sich viele Probleme von selbst. Die Neuorganisation des Verteilnetzbetriebs steht aber auf keiner politischen Agenda.
Dort gehören sie aber hin?
Das Stromnetz ist eine kritische Infrastruktur und für ein modernes Industrieland ist sein Zustand nicht adäquat. Das ist wie bei Brücken und Schulen: Wir haben zu lange von der Substanz gelebt. Die Ampel hat bei den Übertragungsnetzen, also den Stromautobahnen, viel angeschoben. Auf der Ebene darunter, den Verteilnetzen, ist so gut wie nichts passiert. Die Netzbetreiber wissen meist nicht einmal, wann und wo wie viel Strom fließt. Das ist eine Blackbox. Deswegen kann niemand sagen: Wird an dieser Stelle wirklich eine neue Stromleitung benötigt? Stellen wir dort besser einen Großspeicher hin? Zu welchen Zeiten können wir Heimspeicher der Anwohner für den Netzbetrieb nutzen? Würde man das Thema angehen, würde man feststellen: Wir benötigen viel weniger Netzausbau, als die meisten denken.
Kann das den Erfolg der Energiewende verhindern?
Überhaupt nicht, man kann sie nur künstlich ineffizient machen. Wie gesagt: Es handelt sich um eine Revolution, und bei einer Revolution passieren Dinge, die die vermeintlich steuernde Hand nicht auf dem Zettel hat: Balkonkraftwerke haben große Akzeptanz, die Batteriepreise bewegen sich in dieselbe Richtung. Immer mehr Menschen werden ihren Energieverbrauch zu Hause selbst optimieren.
Der kleine Mann und die kleine Frau zwingen dem politischen System die Veränderung von unten auf?
Genau. Darauf muss die Politik reagieren, und sie kann schlecht sagen: Jetzt schicken wir die Strompolizei los und verbieten euch das!
Mit Tim Meyer sprach Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
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Ist Deutschland ein Strombettler? Rechnen wir uns die Energiewende schön? Vernichten erneuerbare Energien Arbeitsplätze oder schaffen sie welche? Warum wählen Städte wie Gartz die AfD - und gleichzeitig einen jungen Windkraft-Bürgermeister?
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Quelle: ntv.de