Deutschland so schlecht wie nie Drei Wege aus der PISA-Misere
06.12.2023, 17:55 Uhr Artikel anhören
Wir müssen Kinder und Jugendliche als kompetente Menschen betrachten, auch wenn sie vielleicht nicht gut in Mathe sind", sagt Bildungsexpertin Zirngibl.
(Foto: picture alliance/dpa)
Deutschland hat einen neuen PISA-Schock. Die Schülerinnen und Schüler des Landes schneiden in der länderübergreifenden Studie der OECD so schlecht ab wie nie. In den Kompetenzen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften liegen die 15-jährigen Jugendlichen hierzulande nur knapp über dem Durchschnitt. Überrascht zeigen sich Experten und Verbände davon nicht, sind die Probleme im deutschen Bildungssystem doch seit Jahren bekannt.
Zum allgemeinen Leistungsabfall, der durch die coronabedingten Schulschließungen im Länderdurchschnitt sichtbar wurde, kommen in Deutschland zahlreiche Baustellen: Lehrermangel, Zuwanderung, die schlechte Ausstattung von Schulen, fehlende Frühförderung - um nur einige zu nennen. An der Ursachenfindung hapert es nicht, aber was lässt sich daraus ableiten? Drei Ansätze.
1. Expertin fordert ein Umdenken
Das schlechte Abschneiden Deutschlands in der PISA-Studie führt Marion Zirngibl vor allem auf die soziale Ungleichheit im Land zurück - und wie damit umgegangen wird. "Für 20 bis 25 Prozent der Kinder, die hier aufwachsen, erfüllt sich das Recht auf Teilhabe nicht", sagt die Bildungsexpertin von der Kinderrechtsorganisation "Save the Children" im Gespräch mit ntv.de.
Einer Studie der Bertelsmanns-Stiftung zufolge ist jedes fünfte Kind in Deutschland armutsgefährdet. Doch die Lebensrealität dieser Kinder fände in Schulen und Kitas kaum Beachtung. Dem entgegenzusteuern sei in erster Linie aber keine Frage des Geldes, sondern der Haltung.
"Bildungseinrichtungen müssen sich fragen: Was bringen diese Kinder mit, wo können sie sich entfalten oder beteiligen?", sagt die Bildungsexpertin. Der Fokus liege oftmals starr auf Lehrplänen und Lernstoff, doch vor allem Kinder aus einkommensschwachen Familien können den Unterricht oft nicht nachbereiten. Schulen müssten in dieser Hinsicht sensibler werden, sagt Zirngibl.
Zudem fordert sie eine veränderte Sicht auf die Kinder. "Wir müssen Kinder und Jugendliche als kompetente Menschen betrachten, auch wenn sie vielleicht nicht gut in Mathe sind", sagt die Bildungsexpertin. Das könne durch alternative Projekte gelingen, bei denen Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler gleichberechtigt mitarbeiten, beispielsweise in der Gestaltung eines sicheren, gemütlichen Klassenraumes. "Natürlich brauchen wir auch mehr Lehrkräfte und eine bessere Ausstattung der Schulen. Aber die Frage ist doch: Was kann sofort umgesetzt werden? Da ist noch viel mehr möglich", sagt Zirngibl.
2. Ein "Sondervermögen Bildung"
Deutschland erhöht seine Bildungsausgaben seit Jahren. Waren es im Jahr 1995 noch knapp 76 Milliarden Euro, sind es 2022 mehr als 176 Milliarden Euro. Im Pro-Kopf-Vergleich lagen die Ausgaben für Bildungseinrichtungen aber laut einem Vergleich aus 2020 unter dem OECD-Durchschnitt. Angesichts eines "heruntergewirtschafteten Schulsystems", dem akuten Personalmangel und der verstärkten Migration fordert der Soziologe Aladin El-Mafaalani ein "Sondervermögen Bildung" in Höhe von 100 Milliarden Euro.
"Ohne ein solches Signal halten wir nicht einmal die jetzigen Lehrkräfte im Schulsystem, und für die nächste Lehrergeneration können wir den Job nicht attraktiv gestalten. Die sehen ja, wie sich gerade die Engagiertesten heute kaputt machen", sagt El-Mafaalani dem "Stern". Dem Soziologen zufolge laufe aber die Zeit davon, ein solches Signal zu setzen. "Meine Sorge ist, dass Wahlen künftig vor allem von den Rentnern entschieden werden. Deshalb müssten wir jetzt die notwendigen Verteilungskämpfe ausfechten, in ein paar Jahren wird das wahrscheinlich nicht mehr gelingen."
3. Von den Top-Nationen lernen
Geht es um Bildungspolitik, wird Finnland gerne als Vorbild genannt. In der Tat liegt das Land in allen drei Kategorien der PISA-Studie auf den vordersten Plätzen. In den 1990er-Jahren veränderte das Land sein Schulsystem radikal. Ein verbindliches Vorschuljahr wurde eingeführt, die Kinder gehen die ersten neun Jahre in eine Gemeinschaftsschule. Erst danach erfolgt der Schritt entweder auf das Gymnasium oder auf eine Berufsfachschule.
Ähnlich sieht es in Estland aus. Das baltische Land schneidet unter allen europäischen Nationen am besten im PISA-Ranking ab. Auch dort lernen alle Schülerinnen und Schüler bis zur 9. Klasse gemeinsam. Zudem werde mit leistungsschwächeren Kindern und Jugendlichen anders umgegangen als in Deutschland, sagt der Bildungsforscher Olaf Köller der "Tagesschau".
"Man nimmt sie raus, man fördert sie dann besonders", sagt er. Für diese individuelle Unterstützung hat Estland spezielle Beratungszentren eingerichtet - ein Novum in Europa. "Auch das kommt bei uns zu kurz: Der Blick auf die schwachen Schülerinnen und Schüler und dann wirklich kluge Angebote, um sie systematisch zu fördern", sagt der Experte.
Quelle: ntv.de