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Was tun gegen Messergewalt? "Langfristig ist es egal, was die Polizei macht"

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Die bei Messern erlaubte Klingenlänge soll mit der geplanten Waffenrechtsverschärfung halbiert werden.

Die bei Messern erlaubte Klingenlänge soll mit der geplanten Waffenrechtsverschärfung halbiert werden.

(Foto: picture alliance / PYMCA/Photoshot)

Die Messerkriminalität nimmt zu und die Politik steht unter Zugzwang. Eine erste Fehleinschätzung besteht laut Experten darin, zu schnell auf Migranten zu zeigen. Der angekündigten Verschärfung des Waffenrechts stehen sie kritisch gegenüber - und plädieren auf ein Umdenken.

Eine Frau liegt in Gelsenkirchen mit Stichverletzungen auf der Straße. Hinzugerufene Rettungskräfte können nur noch ihren Tod feststellen. Auf der A7 bei Neumünster überschlägt sich ein Auto. Polizisten wollen dem Unfallfahrer helfen, doch der zieht ein Messer. Um ihn zu stoppen, schießen die Beamten dem 55-Jährigen in den Oberschenkel. In Herne besucht ein Mann in Begleitung seiner Lebensgefährtin und der beiden Kinder eine Kirmes. Es kommt zu einem Streit mit fünf jungen Männern, infolgedessen dem Familienvater ersten Ermittlungen zufolge in den Rücken gestochen wird. Er muss schwer verletzt ins Krankenhaus, schwebt aber nicht in Lebensgefahr.

Drei Nachrichten aus den vergangenen Tagen, bei denen eine Stichwaffe im Spiel war, fast täglich kommen im Presseportal der Polizei neue Fälle hinzu. Messergewalt ist in Deutschland zwar kein Massenphänomen, aber sie wird mehr, wie Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zeigen. Für das vergangene Jahr werden darin 8951 Fälle von Körperverletzung und schwerer Körperverletzung aufgeführt, bei denen Messer zum Einsatz kamen, um entweder jemanden zu verletzen oder zu bedrohen. Das ist ein Anstieg von 9,7 Prozent zum Vorjahr. Zusätzlich war bei 4.893 Raubdelikten eine Stichwaffe involviert.

Kriminologen mahnen allerdings an, die PKS unter Vorbehalt zu betrachten. Sie ist zunächst ein Tätigkeitsbericht der Polizei, der die Zahl der bearbeiteten Straftaten erfasst, nicht die Verurteilungen. Zudem gibt sie lediglich Aufschluss über das Hellfeld und damit nur über einen Bruchteil der Delikte. Bei Messertaten seien die Zahlen aufgrund einer hohen Anzeigerate aber grundsätzlich ernst zu nehmen, sagt der Kriminologie Dirk Baier zu ntv.de. Er leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Baier hält es für problematisch, dass die Zahlen zu Messerangriffen erst seit 2020 systematisch erfasst werden. "Wirklich verlässlich sind wahrscheinlich erst die Daten aus 2023." Dennoch zeichnet sich ein Trend ab. Die Bundespolizei registrierte laut einem Bericht der "Bild"-Zeitung für das erste Halbjahr 2024 erneut mehr Messerangriffe. Auch die Berliner Charité zeigte sich jüngst alarmiert: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden so viele Menschen mit Stichverletzungen eingeliefert, wie normalerweise im ganzen Jahr. Was ist da los?

Nicht nur Messergewalt nimmt zu

Zunächst lässt sich festhalten, dass die PKS nicht nur mehr Messertaten dokumentiert, sondern einen generellen Anstieg der Gewaltkriminalität. Das Bundeskriminalamt führt dazu drei Faktoren auf: Nachwirkungen der Corona-Pandemie, eine hohe Inflation und damit verbundene soziale Ungleichheit sowie starke Zuwanderung innerhalb eines kurzen Zeitraumes, die für den Einzelnen zu schlechteren Integrationschancen führen kann. In seiner Forschung beobachtet der Kriminologe Baier überdies eine "kulturelle Veränderung". "Mehr Menschen haben eine akzeptierende Einstellung zu Gewalt und sind der Meinung, es gehört dazu, sich zu nehmen, was einem vermeintlich zusteht. Und, dass man als Mann Dominanz und Stärke zeigen muss."

Vor allem bei Messergewalt stellen Politikerinnen und Politiker immer wieder den Zusammenhang mit Migration her. Die PKS scheint diese Behauptung zumindest in Teilen zu stützen: Tatverdächtige ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind überproportional vertreten. In Berlin sei Messergewalt "jung, männlich und mit nicht-deutschem Hintergrund", konstatierte die Polizeipräsidentin der Hauptstadt, Barbara Slowik, im Interview mit ntv.de.

Hinter "nicht-deutsch" stecke jedoch eine ganze Bandbreite an Nationalitäten, die erstmal nichts miteinander gemeinsam hätten, so Baier. Es können Geflüchtete sein, aber auch ausländische Studierende, Touristen oder Menschen, die seit Jahren hierzulande leben, nur eben keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Der Experte warnt deshalb davor, zu schnell auf Migranten zu zeigen. "Es gibt bestimmte Milieus, in denen patriarchale Elemente attraktiver sind. Das stärkere Männlichkeitsdenken kann Deutsche aber genauso ergreifen", sagt Baier.

Prägend ist das soziale Umfeld

Die Ursachen liegen laut Baier vor allem in den Lebensumständen. "Das Aufwachsen in schwierigen Familienverhältnissen pusht manche ein Stück weit, seine Anerkennung und Zuwendung außerhalb der Familie zu suchen", sagt der Experte. "Da landet man schnell bei delinquenten Gruppen, bei denen bestimmte Normen des aggressiven Verhaltens gelten." Auch, wer im Bildungssystem nicht erfolgreich sei, laufe Gefahr, sich auf anderen Wegen Respekt zu verschaffen.

"In der Forschung wurde bereits häufig widerlegt, dass aus der Herkunft einer Person eine höhere Kriminalitätsbelastung resultiert", sagt auch die Kriminologin Elena Rausch im Gespräch mit ntv.de. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden weist darauf hin, dass ein gewichtiger Teil der Messergewalt Partnerschaftsgewalt ist - und die Opfer häufig Frauen. Den größten Risikofaktor für Messerangriffe stellen Rausch zufolge allerdings Menschen in psychischen Ausnahmezuständen dar, die sich bedroht fühlen. Messer werden dann zur Tatwaffe, weil sie schlicht leicht verfügbar sind. "Bei solchen Angriffen werden hauptsächlich Küchenmesser eingesetzt", so die Expertin.

Insbesondere bei Jugendlichen spielten auch Gruppendynamiken eine Rolle, sagt Baier. Wenn es im Freundeskreis als normal oder gar cool angesehen wird, ein Messer bei sich zu tragen, führen viele früher oder später selbst eins mit. In Befragungen werde zudem oft mit einem fehlenden Sicherheitsgefühl argumentiert. "Es wird gesagt, es sei so unsicher da draußen, ich muss mich bei einem Angriff verteidigen können."

Baier spricht von einer unter jungen Menschen verbreiteten "Kontrollillusion": "Viele Jugendliche, die ein Messer mitnehmen, stecken es unreflektiert ein und sind der Meinung, sie könnten den Einsatz bewusst steuern. Das Problem ist nur, wenn es wirklich zu einer Auseinandersetzung kommt, holen sie es eben doch raus und fuchteln damit herum." In solchen Momenten drohe schließlich ein Kontrollverlust.

Faeser kündigt Maßnahmen an

Die Politik steht angesichts der breiten Debatte über Messergewalt unter Druck. Jüngst kündigte Innenministerin Nancy Faeser eine Verschärfung des Waffenrechts an. Demnach ist geplant, die erlaubte Klingenlänge für in der Öffentlichkeit mitgeführte Messer von zwölf auf sechs Zentimeter zu reduzieren. Für Springmesser soll es ein "generelles Umgangsverbot" geben.

Baier begrüßt zwar eine bundesweite Regelung, glaubt aber nicht, dass sich die Messerkriminalität dadurch signifikant senken lässt. "In dieser Richtung ist es eher Symbolpolitik: Die Politik zeigt, sie nimmt sich dem Thema an. Das ist auch getrieben durch die Medien." Eine abschreckende Wirkung auf mögliche Täter bestehe jedoch kaum. Waffenverbotszonen, wie von Faeser gefordert, steht Baier positiv gegenüber, weil höhere Polizeipräsenz die Situation an bestimmten Orten in den Städten beruhigen könne. Allerdings: "Bisher ist kein Programm und keine Maßnahme bekannt, die nachgewiesenermaßen wirksam Messerkriminalität senkt", so der Kriminologe.

Studie sieht psychische Probleme als Hauptgrund

Auch eine Studie der Kriminologischen Zentralstelle aus dem vergangenen Jahr kommt zu dem Schluss, dass Strafverschärfungen und Waffenverbotszonen das Problem nicht nachhaltig lösen. Gemeinsamer Nenner der Messertäter sind demnach häufig unverarbeitete eigene Gewalterfahrungen, dazu kommen Traumatisierungen und Drogenmissbrauch.

Wenn die Gesellschaft Messergewalt in den Griff bekommen wolle, sei ein "ganzheitlicher Ansatz" nötig, "der Gewaltopfererfahrungen, psychische Beeinträchtigungen und missbräuchlichen Substanzkonsum in den Blick" nehme, so das Forschungsteam. "Anstatt Verbote auszusprechen, sollte viel mehr in mentale Gesundheit investiert werden", sagt Mitautorin Rausch. "So könnte man Messerangriffe zumindest mittelbar verhindern."

Baier zieht ein ähnliches Fazit: "Langfristig ist es egal, was die Polizei macht, ob sie präsent ist, kontrolliert oder ob Zäune gebaut worden. Wir kommen nur voran, wenn wir die Gewaltprävention stärken." Akteure müssten mit mehr Ressourcen ausgestattet, jungen Menschen müsse Empathie und Selbstkontrolle beigebracht werden. "Auch die Schulen müssen in die Verantwortung genommen werden, die Familien zu erreichen. Das ist der einzige wirklich nachhaltige Weg."

Quelle: ntv.de

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