Überfüllt und unterfinanziert Lage in deutschen Tierheimen ist "so schlimm wie noch nie"


"Der Sommer ist traurige Hochsaison in Tierheimen", sagt Lea Schmitz vom Deutschen Tierschutzbund.
(Foto: picture alliance/dpa)
Vor wenigen Wochen machen deutsche Tierheime in einem Brandbrief an die Bundesregierung auf ihre alarmierende Situation aufmerksam. Doch was genau belastet die Auffangstationen so stark? Und was hat sich seit dem Notruf politisch getan? Ein Lagebericht.
"Zu viele Schnauzen für zu wenig Hände, die Tierheime sind am Ende!" - mit diesem Weckruf machen deutsche Tierheime Ende Juli in einem Brandbrief an die Bundesregierung auf ihre Arbeit am Limit aufmerksam. Überfüllte Auffangstationen, Finanznot, Fachkräftemangel: Die Liste der Probleme ist ebenso lang wie die der Hilfsforderungen. Eine Reaktion auf den Brandbrief seitens der Politik bleibt bislang allerdings aus.

"Privatpersonen den Onlinehandel von Tieren zu verbieten" fordert Wiebke Blomberg, Vorstandsvorsitzende des Tierheim-Witten-Wetter-Herdecke e.V.
(Foto: Tierheim Witten-Wetter-Herdecke e.V.)
Auch das nordrhein-westfälische Tierheim Witten-Wetter-Herdecke bekommt die prekäre Situation zu spüren. Hier werden vor allem Hunde abgeben. Vorstandsvorsitzende Wiebke Blomberg führt das auf einen Effekt der Corona-Krise zurück. In der Pandemie hätten viele Menschen Welpen adoptiert, die nun nicht mehr klein sind und zu Hause zu viel Platz in Anspruch nehmen. Zudem seien in der Pandemie unüberlegt häufig Gebrauchshunde wie zum Beispiel Jagd- oder Schutzhunde als Familientiere angeschafft worden. Die bräuchten allerdings viel Auslauf und Beschäftigung. Kommen die Menschen dieser Arbeit nicht nach und sind die Hunde nicht ausgelastet, käme es häufig zu Beißvorfällen. "Die Leute sind dann überfordert und melden sich beim Tierheim", so Blomberg gegenüber ntv.de.
"Man kann die Tiere nicht stapeln"
Wie stark der Haustierboom zu Zeiten von Lockdown und Homeoffice tatsächlich ausfällt, zeigen Erhebungen des Industrieverbands Heimtierbedarf (IVH). "Von 2019 auf 2020 ist die Zahl der in Deutschland gehaltenen Haustiere um eine Million gestiegen", berichtet die Pressesprecherin des Deutschen Tierschutzbundes, Lea Schmitz, im ntv.de-Interview. Oft seien die über das Internet, im Zoofachhandel oder beim Züchter gekauft worden: "Nach der Pandemie war der 'Bedarf' an Haustieren durch die vielen Neuanschaffungen quasi gesättigt, sodass die Nachfrage nach Adoptionen von Tieren aus dem Tierheim rückläufig war". Als die in der Corona-Zeit neu angeschafften Vierbeiner dann vermehrt abgegeben wurden, verschärften sich die Kapazitätsprobleme in vielen Heimen zunehmend. "Schließlich kann man die Tiere nicht stapeln, die Plätze sind begrenzt", sagt Schmitz.
Zusätzlich sei der Sommer generell eine "traurige Hochsaison, in der viele Tiere im Tierheim landen", so Schmitz. In der Reisezeit wissen viele Halterinnen und Halter nicht, was sie mit ihrem Haustier machen sollen, während sie im Urlaub sind. Die ohnehin schon überlasteten Tierheime sehen sich im Sommer also mit zusätzlichen abgegebenen oder ausgesetzten Tieren konfrontiert. Einige von ihnen hätten in diesem Jahr berichtet, "dass es so schlimm wie noch nie gewesen sei", sagt Schmitz.
"Über Jahrzehnte im Stich gelassen"
Doch Platzmangel ist derzeit nicht das einzige Problem, mit dem sich deutsche Tierheime konfrontiert sehen. Denn auch sie seien von den Preissteigerungen in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine betroffen, schildert Schmitz. Neben den Kosten für Energie seien auch die für Tierfutter in die Höhe geschossen. Hinzu käme die Anpassung der Gebührenordnung für Tierärzte, die die die Kosten für tierärztliche Behandlungen nach oben treibe. "Bei ausgesetzten Tieren werden häufig Krankheiten diagnostiziert, die kostenaufwändige Behandlungen bedeuten. Die Vermutung, dass diese Tiere aus Kostengründen nicht mehr gewollt waren, liegt da nahe". Und dann wäre da noch die Inflation, die laut Schmitz die Tierheime direkt, aber auch indirekt belaste. Weil schlicht alles teurer wird, "können oder wollen sich viele Menschen ihre Tiere nicht mehr leisten".

Lea Schmitz, Pressesprecherin des Deutschen Tierschutzbundes, warnt vor der unüberlegten Anschaffung eines Haustieres - vor allem aus "dubiosen Quellen".
(Foto: Deutscher Tierschutzbund e.V.)
Dass viele Tierheime mittlerweile "mit dem Rücken zur Wand" stehen, liege laut Schmitz auch an "politischen Versäumnissen". Fundtiere - also verirrte oder entlaufene Tiere sowie Haustiere ohne bekannte Halterinnen oder Halter - gelten als Fundsachen. Laut Fundrecht müssen sie von den Kommunen für sechs Monate "aufbewahrt" werden, falls sich Besitzerinnen oder Besitzer melden, die ihre Tiere vermissen. Diese "kommunale Pflichtaufgabe" werde in der Regel von Tierheimen übernommen, erklärt Schmitz. Doch die Finanzierung sei vielerorts defizitär, das Geld reiche für die Versorgung der Tiere nicht aus. "Die Tierheime müssen also eigene Gelder zuschießen, die Kommune damit quasi aus Spendengeldern 'subventionieren'". Im Gegensatz zu den Folgen von Pandemie und Ukraine-Krieg bestehe dieses Problem jedoch bereits seit langem. "Tierheime werden von den politisch Verantwortlichen seit Jahrzehnten im Stich gelassen".
Alte und marode Tierheime
Um es aus den Geldsorgen herauszuschaffen und die Versorgung der Tiere auch in Zukunft gewährleisten zu können, fordern die Verfasserinnen und Verfasser des Brandbriefes "neue Finanzierungsmodelle für Tierheime und schnelle Hilfe in Notsituationen". Wie das genau aussehen kann, erläutert Schmitz: "Die Kommunen nehmen jährlich über 380 Millionen Euro aus der Hundesteuer ein. Wir fordern, dass die Kommunen einmalig die Hälfte dieser Summe in einem Hilfstopf für Tierheime bereitstellen. Wenn der Bund noch einmal genauso viel dazu geben würde - etwa aus dem 200 Milliarden Euro schweren Hilfspaket, das die Ampel als Entlastung für Bürger und Wirtschaft zur Verfügung stellen will - wäre den Tierheimen sehr geholfen".
Zudem müsse "der Onlinehandel von Tieren für Privatpersonen auf allen Plattformen" verboten werden, fordert Wiebke Blomberg vom Wittener Tierheim. Denn in erster Linie seien es unüberlegte Anschaffungen "aus dubiosen Quellen", die in der Folge zu vielen Abgaben in Tierheimen führten, ergänzt Schmitz. Auch die Einführung eines "theoretischen Sachkundenachweises" könne Tierabgaben vorbeugen. In entsprechenden Kursen könnten sich zukünftige Haustierbesitzerinnen und -besitzer "mit den Bedürfnissen des Tieres vertraut machen und Grundkenntnisse über die Herkunft, Haltung, Ernährung und Pflege der jeweiligen Tierart erwerben".
Menschen, die über die Anschaffung eines Haustiers nachdenken, sollten es sich vorher also gut überlegen. "Wer sich dafür entscheidet, sollte ein Tier aus dem Tierheim adoptieren", rät Schmitz. Das entlaste nicht nur die Auffangstationen, sondern biete zudem einem Heimtier die Chance auf ein sicheres Zuhause. Und zuletzt verrät sie noch einen Tipp für alle, die zwar helfen, sich aber kein Tier anschaffen wollen: "Wer die Möglichkeit hat, kann Tierheime mit einer Spende unterstützen. Für ihre wertvolle Arbeit sind sie immer auf Spendengelder angewiesen".
Quelle: ntv.de