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Demografische Veränderungen Menschen werden immer weniger Verwandte haben

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Mehrere Generationen mit jeweils mehr als drei Geschwistern, das war in den 1920er Jahren noch die Regel.

Mehrere Generationen mit jeweils mehr als drei Geschwistern, das war in den 1920er Jahren noch die Regel.

(Foto: imago/snapshot)

Bei großen Familienfesten sieht man sie einmal alle: Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen, Kinder und Enkel. Doch für künftige Generationen fällt dieser Kreis vermutlich deutlich kleiner aus. Das zeigen demografische Berechnungen.

Die Zahl der Verwandten, die ein Mensch hat, wird schon bald deutlich kleiner sein, als es bei bisherigen Generationen der Fall war. Einer Berechnung des Demografen Diego Alburez-Gutierrez zufolge sinkt die Zahl noch in diesem Jahrhundert um mehr als 35 Prozent. Alburez-Gutierrez ist Leiter der Forschungsgruppe Ungleichheiten in Verwandtschaftsbeziehungen am Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock. Er hat zusammen mit Ivan Williams von der Universität Buenos Aires und Hal Caswell von der Universität Amsterdam im Magazin PNAS eine Studie veröffentlicht, die die Entwicklung der menschlichen Verwandtschaftsbeziehungen weltweit prognostiziert.

Für die Studie haben die Forscher historische und prognostizierte Daten aus den "2022 World Population Prospects" der Vereinten Nationen ausgewertet, die Bevölkerungsentwicklungen zusammenfasst. "Wir haben uns gefragt, wie sich der demografische Wandel auf die Verfügbarkeit von Verwandtschaft in der Zukunft auswirken wird", erklärt Alburez-Gutierrez in einer Mitteilung. "Wie sahen Größe, Struktur und Altersverteilung der Familien in der Vergangenheit aus und wie werden sie sich in Zukunft entwickeln?"

Aus den vorliegenden Daten wurden für jedes Land 1000 Verwandtschaftsverläufe berechnet. "Wir verwenden mathematische Modelle, um die Beziehung zwischen einer Person, ihren Vorfahren und ihren Nachkommen über einen bestimmten Zeitraum darzustellen. Das Modell liefert durchschnittliche Alters- und Geschlechtsverteilungen für verschiedene Arten von Verwandtschaft für jedes Kalenderjahr", so Alburez-Gutierrez.

Weltweite Entwicklung

So konnten die Forschenden zeigen, dass die Familienverbände nicht nur erheblich kleiner werden, sondern dass sich auch ihre Struktur massiv verändern wird. Die Zahl der Cousins und Cousinen, Nichten, Neffen und Enkelkinder werde stark abnehmen, während die Zahl der Urgroßeltern und Großeltern deutlich zunehmen wird, stellen sie fest. 1950 hatte eine 65-jährige Frau im Durchschnitt 41 lebende Verwandte. Im Jahr 2095 wird eine gleichaltrige Frau im Durchschnitt nur noch 25 lebende Verwandte haben.

Die Forscher verstehen unter Familien die lebenden Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel und Urenkel, Tanten und Onkel, Nichten und Neffen, Geschwister und Cousins. "Wir erwarten, dass die Gesamtzahl der Familien in allen Regionen der Welt dauerhaft abnehmen wird", sagt Alburez-Gutierrez. Der größte Rückgang sei in Südamerika und der Karibik zu erwarten. Dort hatte 1950 eine 65-jährige Frau im Durchschnitt 56 lebende Verwandte. Im Jahr 2095 werden es voraussichtlich nur noch 18,3 Verwandte sein - ein Rückgang um 67 Prozent.

In Nordamerika und Europa, wo die Familien schon heute vergleichsweise klein sind, werden die Veränderungen demnach weniger ausgeprägt sein. Hier hatte eine Frau im Alter von 65 Jahren im Jahr 1950 etwa 25 lebende Verwandte, im Jahr 2095 werden es nur noch 15,9 sein. Die weltweiten Familiengrößen werden sich bis 2095 angleichen. Während 1950 der Unterschied zwischen dem Land mit der höchsten Familiengröße (Simbabwe) und dem Land mit der niedrigsten Familiengröße (Italien) 63 betrug, wird dieser Unterschied 2095 nur noch 11 betragen.

Auswirkungen auf Kinderbetreuung und Pflege

Vorhersagen über die Verwandtschaftsverhältnisse sind im Zusammenhang mit der raschen Alterung der Bevölkerung bedeutend, weil kleinere Geburtskohorten zunehmend für ältere Erwachsene aufkommen müssen, die weniger oder keine Verwandten haben. "Unsere Ergebnisse bestätigen, dass die Verfügbarkeit verwandtschaftlicher Ressourcen weltweit abnimmt. Da der Altersunterschied zwischen den Menschen und ihren Verwandten zunimmt, werden die Familiennetzwerke der Menschen nicht nur kleiner, sondern auch älter", schreiben die Forschenden.

Großeltern und Urgroßeltern werden beispielsweise in Zukunft durch die strukturellen Veränderungen in Familien wahrscheinlich in größerer Zahl zur Verfügung stehen. "Während dies theoretisch dazu beitragen könnte, die Eltern bei der Kinderbetreuung zu entlasten, könnten diese (Ur-)Großeltern in der Realität selbst pflegebedürftig werden."

Ein großer Teil der Weltbevölkerung hat derzeit keinen Zugang zu hoch entwickelten sozialen Unterstützungssystemen. Für sie sind familiäre Bindungen nach wie vor eine wichtige Quelle der Unterstützung und Pflege, und dies wird wahrscheinlich auch in Zukunft so bleiben. "Diese seismischen Verschiebungen in der Familienstruktur werden wichtige gesellschaftliche Herausforderungen mit sich bringen, die von politischen Entscheidungsträgern im globalen Norden und Süden berücksichtigt werden sollten", sagt Alburez-Gutierrez.

Quelle: ntv.de

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