Politik

Wirtschaft, Demografie, Militär Befindet sich Europa im Niedergang?

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Der "Niedergang Europas" wird immer wieder beschworen. Die Fakten deuten allerdings in eine andere Richtung.

Der "Niedergang Europas" wird immer wieder beschworen. Die Fakten deuten allerdings in eine andere Richtung.

(Foto: picture alliance / FotoMedienService)

Wirtschaftlich schwach, militärisch von den USA abhängig, demografisch auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit: Immer wieder wird über einen angeblichen Niedergang Europas diskutiert. Doch die Debatte führt in eine Sackgasse.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat Abhängigkeiten Europas von den USA sehr deutlich werden lassen. Ohne die militärische Hilfe der USA und allein mit europäischer Hilfe wäre die Ukraine nicht in der Lage gewesen, die russische Kriegsmaschinerie zu stoppen. Deshalb entsteht auch eine neue Diskussion in den Medien über den Niedergang Europas. Diese Diskussion dreht sich vor allem um Themen der Wirtschaft, der Demografie und des Militärs.

Europa ist, so das Argument, im Niedergang begriffen, weil es in seiner Wirtschaftskraft seit der Finanzkrise immer mehr hinter die Vereinigten Staaten zurückfällt, in seiner Demografie heute nur noch wenige Prozente der Weltbevölkerung umfasst und auch, weil es im Vergleich zu den USA militärisch seit dem Ende des Kalten Krieges immer schwächer geworden ist. Was ist an diesem Argument dran?

Die Wirtschaftskraft Europas ist seit den 1990er- Jahren, also seit dem Ende des Kalten Krieges, keineswegs hinter die der USA zurückgefallen. Wenn man die Kaufkraftparitäten berücksichtigt und damit Währungsschwankungen zwischen Dollar und Euro herausnimmt, dann sieht die Geschichte anders aus: In den 1990er-Jahren war das Bruttosozialprodukt im Raum der Europäischen Union der 28 Länder etwas größer als das Bruttosozialprodukt der USA. 2020, also vor dem Brexit, lag die Wirtschaftskraft der Europäischen Union weiterhin vor den USA, gleichgültig, ob man sich bei der OECD, der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds informiert. Ausschließlich wegen des Ausscheidens Großbritanniens war 2022 die Wirtschaftskraft der Europäischen Union etwas niedriger als die der USA. Wäre Großbritannien in der Europäischen Union geblieben, wäre auch 2022 der Vorsprung der Europäischen Union im Bruttosozialprodukt erhalten geblieben.

Wirtschaftlicher Rückfall nicht erkennbar

Niemand wird bestreiten wollen, dass die Gefahr eines wirtschaftlichen Rückfalls der Europäischen Union besteht. Das Wirtschaftswachstum der Europäischen Union war seit der Finanzkrise 2009 bis 2012 tatsächlich öfters niedriger, nur in wenigen Jahren höher als das der USA. Die Dominanz der amerikanischen Digitalkonzerne ist erdrückend und wird nur von chinesischen, nicht von europäischen Unternehmen herausgefordert. Aber man vergisst zu leicht die Stärken der europäischen Wirtschaft in der Autoindustrie, im Flugzeugbau, in zahllosen, dem Konsumenten wenig sichtbaren Technologien, auch in den grünen Technologien. Das Argument, dass der Rückfall der Europäischen Union hinter die USA schon seit der Finanzkrise im Gang ist, überzeugt nicht.

Lief die demografische Entwicklung anders? Tatsächlich sank der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung bekanntermaßen dramatisch von jedem sechsten Menschen um 1950 auf jeden sechzehnten Menschen um 2020. Aber nach den demografischen Voraussagen der UN bis zum Jahr 2050 ändert sich an einem entscheidenden Punkt nichts: Die Europäische Union bleibt mit rund einer halben Milliarde Einwohner hinter Indien und hinter China auf dem dritten Platz in der globalen Rangliste der Weltbevölkerung. Weder die USA noch die neuen Aufsteiger Nigeria, Indonesien oder Pakistan werden bis 2050 die Europäische Union von diesem dritten Platz verdrängen. Natürlich sind demografische Prognosen mit Vorsicht zu genießen. Aber es ist jedenfalls nicht ausgemacht, dass die Europäische Union in den nächsten Jahrzehnten demografisch hinter die USA und auch hinter Indonesien, Nigeria und Pakistan in die dritte Liga absinken wird.

Schließlich die Militärausgaben: Es ist völlig richtig, dass im Vergleich zum Kalten Krieg die Mitgliedsländer der Europäischen Union, soweit sie der NATO angehören, deutlich hinter die USA zurückgefallen sind. Nach den Zahlenangaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI lagen die Militärausgaben der westeuropäischen NATO-Länder 1990, also am Ende des Kalten Kriegs, bei 55 Prozent, das heißt über der Hälfte der Militärausgaben der USA. Bis 2022, bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, sanken die Militärausgaben der europäischen NATO-Länder auf nur noch 37 Prozent der Ausgaben der USA, obwohl die Zahl der NATO-Länder zugenommen hatte. Das ist ein substanzieller Rückfall, auch wenn in diesen Zahlen die Kaufkraft nicht berücksichtigt ist.

Was Europa fehlt, ist die enge militärische Kooperation

Dieser Rückfall hatte damit zu tun, dass die meisten Europäer bis 2022 nicht mit einem Krieg in Europa gerechnet hatten, die USA als Supermacht dagegen immer auf einen militärischen Konflikt gefasst sein musste und deshalb ihre Militärausgaben kontinuierlich steigerten. Allein zwischen der Annexion der Krim 2014 und 2022 stiegen die Militärausgaben in den USA nominal um über ein Viertel, im NATO-Europa dagegen nur um ein Siebtel. Ob dieser Rückstand weiter zunimmt, kann man allerdings bezweifeln. Auch in vielen europäischen Ländern hat der Ukraine-Krieg zu einer Zeitenwende geführt.

Dabei ist zu wenig bekannt, dass die europäischen NATO-Länder zusammen genommen 2022 nach den Zahlen von SIPRI ungefähr ein Dreifaches für das Militär ausgaben als Russland. Diese Ausgaben brachten aber bisher keine eigenständige, von den USA unabhängige Sicherheit Europas gegenüber Russland, weil sie sich auf fast 30 nationale Armeen in Europa verteilen, die ihre Eigenständigkeit im Einkauf, in der Ausrüstung und der Rüstungsproduktion, oft auch in der Verteidigungsplanung, eifersüchtig verteidigen, die größeren Länder noch mehr als die kleineren. Aber die Chance zu einer besseren militärischen Nutzung dieser zersplitterten militärischen Ausrüstung und Planung besteht. Auch der Zwang.

Insgesamt führt die Debatte über den Niedergang Europas in eine Sackgasse. Richtig daran ist nur, dass die russischen Annektierungen und der russische Angriffskrieg in der Ukraine in einem historischen Moment einsetzten, in dem das militärische Potenzial Europas erheblich abgesenkt worden war, weil mit einem klassischen Landkrieg auf dem europäischen Kontinent nicht mehr gerechnet wurde. Aber daraus auf ein Europa im wirtschaftlichen und demografischen Niedergang zu schließen, wäre verkehrt. Der Europäischen Union fehlen ohne Zweifel alle Voraussetzungen für eine Supermacht vom Rang der USA und Chinas. Aber statt über den Niedergang Europas zu reden wäre es besser zu diskutieren, welche globale Politik die Europäischen Union als Nichtsupermacht wählen kann.

Prof. Dr. Hartmut Kaelble hatte bis 2008 einen Lehrstuhl für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern.

Quelle: ntv.de

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