
Über 35 Jahre lang war Eltern in China nur ein Kind erlaubt, mittlerweile dürfen sie drei Kinder bekommen. Trotzdem ist die Geburtenrate rückläufig.
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China steht vor einem großen Problem: Zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten leben weniger Menschen in dem riesigen Land. Das bedeutet auch weniger Arbeitskräfte - und damit eine schrumpfende Wirtschaft. Peking muss umdenken.
China ist das Land mit den meisten Menschen weltweit. Kurz dahinter folgt Indien. Das bisher zweitbevölkerungsreichste Land der Erde wird China möglicherweise noch dieses Jahr überholen. Der Demografie-Experte Yi Fuxian vermutet sogar in einem Interview mit China.Table, dass Indien die Volksrepublik bei der Zahl der Einwohner längst eingeholt hat.
Wenn auch sehr langsam, aber es passiert: Die chinesische Bevölkerung schrumpft, zum ersten Mal seit den 1960er Jahren. Ende Dezember hatte die Volksrepublik 1,4 Milliarden Einwohner - rund 850.000 weniger als ein Jahr davor, sagt das Pekinger Statistikamt.
Die Geburtenrate lag vergangenes Jahr bei nur noch 6,77 Neugeborenen auf 1000 Menschen - so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zum ersten Mal in der Geschichte Chinas wurden in einem Jahr weniger als zehn Millionen Babys geboren.
Geburtenkontrolle "knallhart durchgesetzt"
"Bei der Einführung der Ein-Kind-Politik hat man sich einfach politisch total verrechnet", analysiert Katja Drinhausen vom Mercator Institute for China Studies im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Die chinesische Regierung habe gedacht, sie könne die Menschen für ein paar Jahrzehnte auf ein Kind beschränken und die Entwicklung dann wieder umkehren. Das habe aber nicht funktioniert, sagt die Leiterin des Bereichs chinesische Politik und Gesellschaft.
China hat die Ein-Kind-Politik 1980 eingeführt. Die chinesische Regierung wollte, dass die Bevölkerung nicht noch weiter wächst - aus Angst davor, dass die Lebensmittel knapp werden. Dem Land steckte noch die große Hungersnot von 1961 in den Knochen. Damals waren Millionen Menschen ums Leben gekommen, weil sie nicht genug zu essen hatten.
Tatsächlich wurden nach Beginn der Geburtenkontrolle auch weniger Kinder geboren. Das war allerdings verbunden mit teils brutalen Maßnahmen wie der Zwangseinsetzung von Spiralen und Zwangsabtreibung, die "knallhart durchgesetzt" wurden, berichtet Katja Drinhausen. Mädchen wurden massenhaft abgetrieben, weil Jungen lange Zeit als die besser Verdienenden galten. Paare, die gegen die Ein-Kind-Regel verstoßen haben, mussten hohe Geldstrafen zahlen.
Eine immer älter werdende Bevölkerung, ein Männerüberschuss und weniger Menschen insgesamt waren und sind die Folgen in China.
Die Ein-Kind-Familie als Idealbild
Um das zu ändern, wurde die strenge Geburtenkontrolle 2016 wieder abgeschafft. Ab dann durften Paare statt einem zwei Kinder bekommen, ohne dafür bestraft zu werden. Vergangenes Jahr wurde noch mehr gelockert, Eltern dürfen jetzt drei Kinder haben. Die Provinz Sichuan hat Mitte Februar alle Obergrenzen für Nachwuchs gestrichen, auch für Unverheiratete. Den erhofften Geburtenboom gab es aber bisher nicht. Nur kurzzeitig wurden 2016 etwas mehr Kinder geboren.

Ein chinesisches Propaganda-Plakat von 1978 zeigt eine glückliche Kleinfamilie mit Vater, Mutter und einem Kind.
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Das wundert Katja Drinhausen nicht. Die Dynamik sei schwer umkehrbar, erklärt die Forscherin im Podcast. In Kampagnen sei jahrzehntelang das Bild vermittelt worden, ein Kind zu haben, sei optimal. "Da waren Plakate oder Wandbilder in den Dörfern und Städten, wo draufstand, eine zivilisierte Familie hat nur ein Kind und kann dann alle Ressourcen darauf konzentrieren. Das bleibt natürlich hängen." Die Chinesen können sich inzwischen kaum mehr als ein Kind vorstellen. Sie haben sich an die kleine Familie gewöhnt.
Dazu kommt, dass es in Chinas wettbewerbsorientiertem Bildungssystem einfach sehr teuer ist, ein Kind großzuziehen. "Man kann es in China nur zu etwas bringen, wenn man eine gute Ausbildung hat", erläutert die China-Expertin. Von der Kita bis zum Uniabschluss, alles kostet viel Geld. "Man investiert im Prinzip Jahre und Jahrzehnte einen Großteil seines Gehalts in das Kind. Das wird als eine sehr starke Belastung empfunden". Mit kleineren Zuschüssen oder Kindergeld seien diese hohen Investitionen laut Katja Drinhausen nicht aufzuwiegen.
"China braucht Jobs für gut ausgebildete Menschen"
Jeder fünfte Chinese ist momentan über 60 Jahre alt. Es gibt immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter zwischen 15 und 59 Jahren. In den nächsten Jahrzehnten, bis 2050, wird die Erwerbsbevölkerung millionenfach sinken, um fast 250 Millionen Menschen insgesamt, prognostiziert das Ministerium für Humankapital und soziale Angelegenheiten.
Dass das Verhältnis von Jung und Alt kippt, hat massive Auswirkungen auf die Wirtschaft. China befürchtet einen Arbeitskräftemangel, der das Wirtschaftswachstum bremsen könnte. "Mit Blick auf den Arbeitsmarkt kann man nicht mehr von der demografischen Dividende leben, also von vielen jungen, zum Teil auch nicht so gut ausgebildeten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die für wenig Geld Dinge produzieren", sagt Katja Drinhausen im "Wieder was gelernt"-Podcast. Schon länger fehlen den Fabriken die Arbeiter. Mit einer alternden, kleineren Gesellschaft kann die "Werkbank der Welt" nicht mehr so wie bisher in Massen produzieren. Zumal die Regierung für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von rund fünf Prozent plant.
"Man braucht jetzt eine ganz andere Wirtschaft und einen ganz anderen Arbeitsmarkt, nämlich Jobs für gut ausgebildete Menschen, die lange in diesen Bereichen arbeiten", schlussfolgert die Expertin. China müsse hin zu höherer Wertschöpfung und besseren Produkten. "Das bedeutet eine soziale und wirtschaftliche Anpassung." Der Arbeitskräftemangel kommt schleichend: Noch einige Jahre oder Jahrzehnte hätten die chinesische Regierung und die Unternehmen Zeit, sich darauf einzustellen.
Wenn Chinas Wirtschaft weniger wächst, wären auch die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft riesig. Denn kein Land exportiert mehr - die Volkswirtschaft ist außerdem der zweitgrößte Importeur, nach den USA.
Sozial- und Rentensystem kaum ausgebaut
Je älter die Bevölkerung Chinas wird, desto teurer wird es auch für den Staat. Immer weniger Arbeitnehmer werden in Zukunft die alten Menschen versorgen müssen. "China hat in den vergangenen Jahrzehnten eine sehr schnelle wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen, das Sozialsystem und das Rentensystem sind aber noch gar nicht so stark ausgebaut", analysiert Katja Drinhausen. China werde alt, bevor es reich wird. "Da tun sich Versorgungslücken auf."
Wer später keine Familie hat, die sich um einen kümmert, dem droht Altersarmut. Einige Experten befürchten sogar eine humanitäre Katastrophe.
Eine weitere Folge von Chinas Ein-Kind-Politik ist eine ungleiche Verteilung der Geschlechter. Die Volkswirtschaft hat fast 35 Millionen mehr alleinstehende Männer als Frauen, hat die Volkszählung ergeben. Etwa die Hälfte der Männer ist im heiratsfähigen Alter. Sie leben vor allem auf dem Land. "Es gibt zum Teil ganze Regionen, wo viele Männer keine Frauen finden", berichtet die China-Expertin im Podcast.
In größeren Städten ist es andersherum: hier gibt es immer mehr Frauen, die später oder gar nicht heiraten. Die Folge sei dort ein Überschuss an gut gebildeten, unverheirateten Frauen. "Diese strukturellen Probleme, dass es Männer gibt, die keine Frau finden, aber auch Frauen, die keine Männer finden, ist ein chinaweites Problem", so die Forscherin. Ein Ungleichgewicht, das die Geburtenrate vermutlich auch nicht gerade fördert.
Mehr Geld für Familien ist "keine schnelle Lösung"
Um den Männerüberschuss auf dem Land auszugleichen, wirbt China Frauen aus ärmeren südostasiatischen Ländern an - als Ehefrauen. "Das passiert zum Teil freiwillig, weil China zum Teil einfach mehr Möglichkeiten bietet. Auch nach China passiert tatsächlich Migration, um das Leben zu verbessern. Aber es gibt natürlich auch die Schattenseiten, nämlich Menschenhandel", erklärt Drinhausen.
Was kann China denn tun, damit die Geburtenrate wieder steigt? Mehr Kinder zu erlauben, scheint nicht die Lösung zu sein. Experten fordern, dass die Regierung Eltern finanziell deutlich besser unterstützen sollte. Die Pekinger Denkfabrik YuWa Population Research erwartet, dass Steueranreize, mehr Geld fürs Eigenheim und den Kindergartenbau etwas bringen würden. Aber auch eine längere Elternzeit, flexible Arbeitszeiten und eine Bildungsreform.
China-Expertin Drinhausen sieht in Zuschüssen oder Kindergeld zumindest keine schnelle Lösung. Helfen würde unter anderem, Schulen besser und gleicher auszustatten, "damit Eltern nicht immer Angst haben, dass ihr Kind ins Hintertreffen gerät, wenn dieses es nicht in eine der wenigen Eliteschulen schafft." Ma Li, ein ehemaliges Mitglied des chinesischen Forschungszentrums für Bevölkerung und Entwicklung, meint, China müsste insgesamt familienfreundlicher werden.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de