Handy-Chat kann Todesurteil sein Neue Sinaloa-Drogenbosse greifen zu brutalen Methoden
19.10.2024, 15:45 Uhr Artikel anhören
Die Gewalt des Sinaloa-Kartells gehört in Culiacán zum Alltag, aber das Ausmaß ist neu.
(Foto: AP)
Im Sommer werden zwei Drogenbarone des Sinaloa-Kartells in den USA festgenommen. Jetzt rücken in Mexiko junge Bosse nach. Deren Methoden sind rücksichtsloser, das Ausmaß der Gewalt auf den Straßen wächst - und die meisten Einwohnerinnen und Einwohner können dem nicht entfliehen.
Nachrichten auf dem Handy können im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa ein Todesurteil sein. Im Drogenkrieg des Sinaola-Kartells sind Banden dazu übergegangen, Jugendliche auf der Straße oder im Auto anzuhalten und ihre Handys zu verlangen. Finden sie dort in den Kontakten ein Mitglied einer rivalisierenden Gruppe, einen Chat mit einem falschen Wort oder ein Foto mit der falschen Person, ist der Besitzer des Telefons tot. Anschließend knöpfen sich die Kriminellen jeden vor, der in der Kontaktliste des Getöteten steht, und so beginnt eine weitere potenzielle Kette von Entführung, Folter und Mord.
Das hat dazu geführt, dass die Einwohner und Einwohnerinnen von Culiacán, der Hauptstadt des Staates Sinaloa, sich nachts lieber nicht aus dem Haus wagen und Angst haben, in ihre nur wenige Kilometer entfernten Wochenendhäuser zu fahren. "Man kommt keine fünf Minuten aus der Stadt heraus, (...) nicht einmal bei Tageslicht", sagt Ismael Bojórquez, ein erfahrener Journalist in Culiacán. "Weil die Narcos Straßensperren errichtet haben und dich anhalten und dein Handy durchsuchen."
Dabei sind nicht nur die eigenen Chats gefährlich. Wenn mehrere Menschen in einem Auto sitzen, kann der Kontakt oder Chat eines einzigen Insassen der ganzen Gruppe zum Verhängnis werden. So wurde der 20-jährige Sohn eines Nachrichtenfotografen zusammen mit zwei anderen Jugendlichen angehalten. Auf einem ihrer Telefone entdeckten die Täter etwas und ließen alle drei verschwinden. Nach diversen Anrufen wurde der Sohn des Fotografen schließlich freigelassen. Die anderen beiden aber sind nicht wieder aufgetaucht.
Wochenlange Kämpfe
Gewalt des Sinaloa-Kartells gehört für die Menschen in Culiacán zum Alltag, doch das Ausmaß ist neu. Die Einwohnerinnen und Einwohner wissen, dass es besser ist, im Haus zu bleiben, wenn Pickups mit Doppelkabine im Konvoi durch die Straßen rasen. Immer wieder regierte ein oder zwei Tage lang die Kriminalität auf den Straßen. Aber wochenlange Kämpfe wie jetzt gab es früher nicht.
Die Kämpfe dauern seit dem 9. September an, nachdem die Drogenbarone Ismael "El Mayo" Zambada und Joaquín Guzmán López in den USA festgenommen worden waren. Zambada behauptete später, er sei von Guzmán López entführt und an Bord des Flugzeugs gezwungen worden, was zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Zambadas Leuten und der von den Söhnen des inhaftierten Drogenbosses Joaquin "El Chapo" Guzmán angeführten Gruppe Chapitos führte.
Die Menschen in Culiacán sehnen sich nach den alten Zeiten zurück, als die Kartelle mit ihrem Reichtum die lokale Wirtschaft schmierten, aber die Zivilbevölkerung nur selten darunter litt - es sei denn, jemand schnitt im Verkehr dem falschen Pickup die Vorfahrt. Nach der Verhaftung von Guzmán López und Zambada am 25. Juli habe eine neue Generation jüngerer und protzliebender Drogenbosse die Macht übernommen, sagt Juan Carlos Ayala, der sich an der Universität von Sinaloa mit Auswirkungen des Drogenhandels auf die Menschen befasst.
Kidnapping statt Schießerei
Die neuen Bosse regeln Streitigkeiten nicht mehr mit Schießereien und legen sie schließlich per Handschlag bei, wie noch ihre Vorgänger. Sie kämpfen mit extremer Gewalt, Entführungen und Handyortung. "Sie sehen, dass die Taktik der Schießereien für sie nicht funktioniert hat, also gehen sie zum Kidnapping über", sagt Ayala. "Sie schnappen jemanden, der Nachrichten von der rivalisierenden Gruppe hat, verfolgen ihn, um weitere Informationen zu erpressen, und so beginnt eine Kette der Jagd, um den Feind zu schnappen."
Die neue Taktik zeigt sich auch in einer großen Welle bewaffneter Autodiebstähle in und um Culiacán. Früher stahlen die bewaffneten Kartellmitglieder die von ihnen bevorzugten Geländewagen und Pickups, mit denen sie in den Konvois des Kartells herumfuhren. Jetzt konzentrieren sie sich auf den Diebstahl kleinerer Limousinen. Diese nutzen sie, um bei ihren lautlosen, tödlichen Entführungen unentdeckt zu bleiben.
Der Staatsrat für öffentliche Sicherheit, eine Bürgergruppe, schätzt, dass es im September in und um Culiacán im Durchschnitt täglich sechs Morde und sieben Entführungen gegeben hat. Nach Angaben der Gruppe sind etwa 200 Familien wegen der Gewalt aus ihren Häusern in den Außenbezirken geflohen.
Die Stadt hat schon früher Gewalt erlebt. Im Oktober 2019 kam es zu heftigen Schusswechseln, als Soldaten vergeblich versuchten, "Chapo" Guzmáns Sohn Ovidi festzunehmen. Es gab 14 Tote. Einige Tage später organisierte die Bürgeraktivistin Estefanía López einen Friedensmarsch, an dem etwa 4000 Menschen teilnahmen. Als sie in diesem Jahr versuchte, etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen, konnte sie nur noch rund 1500 Menschen für eine Demonstration gewinnen. "Wir bekamen im Vorfeld viele Nachrichten von Menschen, die sich anschließen und demonstrieren wollten, um die Sache zu unterstützen, aber Angst hatten, zu kommen", sagt López.
Dafür gibt es durchaus Anlass. Vergangene Woche drangen Bewaffnete in ein Krankenhaus in Culiacán ein und töteten einen Patienten, der zuvor durch Schüsse verwundet worden war. Nördlich der Stadt lieferte sich ein Militärhubschrauber ein Feuergefecht mit Bewaffneten.
Regierung sieht Schuld in den USA
Die Regierung schiebt die Schuld an der Gewaltwelle auf die USA. Die hätten Drogenbossen gestattet, sich selbst zu stellen, und damit für Unruhe unter den Kartellen gesorgt. Die Regierung in Mexiko-Stadt selbst hat Hunderte Soldaten nach Sinaloa geschickt. Doch die sind nicht für Straßenkämpfe in einer Millionenstadt ausgebildet und das gegen ein Kartell, das über jede Menge Scharfschützengewehre und Maschinenpistolen verfügt. Auf der Suche nach einem Verdächtigen drangen Soldaten in einen luxuriösen Wohnkomplex im Stadtzentrum ein und erschossen schließlich einen jungen Passanten - einen Anwalt, der gerade vorbeikam.
Friedensaktivistin López fordert, Soldaten und Polizei sollten besser vor Schulen postiert werden, damit die Kinder wieder zum Unterricht gehen können. Die werden derzeit meist online unterrichtet, weil ihre Eltern es für zu gefährlich halten, sie zur Schule zu bringen. Allerdings ist die Polizei gerade nicht einsatzfähig. Soldaten haben die gesamte Stadtverwaltung von Culiacán entwaffnet und überprüfen die Waffen - ein gängiges Vorgehen, wenn die Armee Polizisten verdächtigt, für die Drogenkartelle zu arbeiten.
Geschäfte und Restaurants schließen
Ein örtlicher Armeekommandeur hat eingeräumt, dass nicht die staatlichen Stellen, sondern die Kartelle darüber entschieden, wann die Gewalt endet. López sagt dazu: "In Culiacán gibt es nicht einmal mehr den Glauben daran, dass wir sicher sein werden, weder bei der Polizei noch bei den Soldaten." Das wirke sich auf Alltag und Wirtschaft aus. "Viele Geschäfte, Restaurants und Nachtclubs sind seit einem Monat geschlossen."
Nach Angaben der Leiterin der örtlichen Restaurantkammer, Laura Guzmán, haben seit dem 9. September etwa 180 Geschäfte in Culiacán dauerhaft oder vorübergehend dichtgemacht. Fast 2000 Arbeitsplätze sind verloren gegangen. Einige Unternehmen versuchten, sogenannte lange Nachmittage für Einwohner und Einwohnerinnen zu organisieren, die Angst haben, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen. Doch es seien nicht genügend Menschen gekommen. "Junge Leute haben im Moment kein Interesse daran, auszugehen", sagt Guzmán.
Früher suchten die Menschen im zweieinhalb Autostunden entfernten Badeort Mazatlan Zuflucht, wenn sie der Gewalt eine Weile entfliehen wollten. Doch im September haben bewaffnete Kartellmitglieder Passagierbusse gekapert, Touristen aussteigen lassen und die Fahrzeuge angezündet, um die Straße nach Mazatlan zu blockieren. Damit ist auch dieser Ort keine Option mehr.
Eine letzte Möglichkeit steht nur wenigen offen. "Diejenigen, die über die wirtschaftlichen Mittel verfügen, verlassen die Stadt mit dem Flugzeug, um eine Pause einzulegen", sagt Guzmán.
Quelle: ntv.de, Mark Stevenson, AP