Panorama

Sterberate auf US-Niveau Schweden macht's noch schlechter als Deutschland

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Eine Querdenker-Demo mit mehr als acht Personen wäre in Schweden aktuell nicht möglich.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Die deutsche Corona-Strategie steckt in einer Sackgasse, die Neuinfektionen gehen nicht runter, täglich sterben mehr als 400 Menschen. Aber es gibt europäische Länder, die noch schlechter mit der zweiten Welle umgehen. Ein Negativ-Beispiel ist Schweden.

Der Wunsch nach einem Umgang der Corona-Pandemie mit so wenig einschränkenden Maßnahmen wie möglich machte Schweden für viele zu einem leuchtenden Vorbild. Die vielen Toten im vergangenen Frühjahr konnte man als Fehler abtun, aus dem das skandinavische Land gelernt hat. Und im Sommer sah es tatsächlich so aus, als wäre der schwedische Sonderweg ebenso zielführend wie die deutsche Corona-Strategie. Das erweist sich nun in der zweiten Welle als Illusion.

Deutschland, das es jetzt mit sehr milden Maßnahmen versucht, hat sich in eine Sackgasse manövriert. Die Neuinfektionen stagnieren auf hohem Niveau, täglich sterben mehr als 400 Menschen. Statt entschieden mit einem kurzen, aber harten Lockdown die Kontrolle zurückzugewinnen, wird der ineffiziente Teil-Shutdown verlängert. Trotzdem glauben viele noch daran, es genüge zusätzlich zu den AHAL-Regeln die Risikogruppen zu schützen und die Bevölkerung von einer freiwilligen Kontaktbeschränkung zu überzeugen.

Neuinfektionen und Todeszahlen steigen deutlich

Doch Schweden können die Lockdown-Gegner kaum noch als gutes Beispiel für so eine Politik heranziehen. Denn das Land im hohen Norden ist mit seinem Corona-Latein weitgehend am Ende. Die Zahl der Neuinfektionen steigt steil an und die Sterberate ist weit höher als in Deutschland.

Schaut man sich die Statistiken an, die die Anzahl der Covid-19-Todesfälle pro eine Million Einwohner abbilden, wird deutlich, wie schlecht Schweden aktuell die zweite Corona-Welle bewältigt. Derzeit sind dies rund 5,5 Tote im gleitenden 7-Tage-Schnitt. Deutschland liegt hier aktuell bei etwa 4,2 Todesfällen. Das bedeutet, dass Schweden jetzt fast die gleiche Sterberate wie die USA hat.

Und das Land könnte in den kommenden Wochen noch weit mehr Tote zu beklagen haben. Denn während Deutschland relativ stabil bei einer 7-Tage-Inzidenz von rund 150 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner liegt, steigt die Zahl der neuen Fälle in Schweden weiter kräftig an. Aktuell liegt die Inzidenz der Skandinavier bei rund 340. In Schweden sind rund 20 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre, in Deutschland etwa 22 Prozent. Die Strukturen sind durchaus vergleichbar.

Wenn es dem Land also nicht besser als der Bundesrepublik gelingt, die alten Menschen zu schützen, wird dort mit steigenden Neuinfektionen auch die Zahl der Covid-19-Toten weiter zunehmen. Wie sich die Todeszahlen in Schweden aktuell entwickeln, ist wegen des Meldesystems dort erst im Rückblick genau zu sehen. Die Werte schwanken stark, gestern meldete das Land 174 neue Corona-Tote, heute 35. Unter anderem liegt das daran, dass Schweden die Covid-19-Opfer offiziell nach Sterbedatum zählt und nicht nach Meldedatum.

Chef-Epidemiologe verliert Überblick

Die Verzögerung bei den Todeszahlen brachte kürzlich auch den obersten Epidemiologen des Landes in Verlegenheit. Seit Ende Oktober verzeichnet das Land eine rasante Zunahme der Opferzahlen. "Wir haben keinen starken Anstieg (der Zahl der Todesfälle), sondern es ist ein Anstieg, den wir seit Mitte Oktober verzeichnen", sagte Anders Tegnell allerdings am 18. November. "Damals hatten wir vier bis fünf Todesfälle pro Tag, und jetzt sind wir bei etwa 20 angelangt." Tatsächlich seien da schon Werte um 40 Tote täglich erreicht gewesen, am 18. November 49, berichtet "The Local". Er habe ganz klar falsch gelegen, sagte Tegnell später, er habe aber nur sagen können, was er damals gewusst habe.

"The Local" fragte den Chef-Epidemiologen, ob er die zweite Welle unterschätzt habe. "Nein", antwortete er. Man könne die Wucht einer Welle nicht alleine aufgrund der Mortalität bestimmen. Die Ausbreitung der Krankheit sei viel wichtiger. "Es gibt keinen besseren Hinweis auf die Schwere einer Welle." Damit ist klar, dass auch Schwedens oberster Epidemiologe die Neuinfektionen als entscheidenden Wert im Kampf gegen die Corona-Epidemie ansieht.

Strengere Maßnahmen beschlossen

Deshalb hat sich Schweden jetzt von seiner lockeren Corona-Politik ein gutes Stück weit verabschiedet und ergreift teilweise härtere Maßnahmen als Deutschland. Das ist nicht ganz neu. Im Gegensatz zur Legende, das Land empfehle seinen Bürgern lediglich Einschränkungen, waren in Schweden im Sommer noch Zusammenkünfte von mehr als 50 Personen untersagt, während man in Deutschland in Partylaune Veranstaltungen mit Hunderten Personen auch in geschlossenen Räumen gestattete. Dass Schweden im Oktober dann die Grenze auf 300 anhob, während die zweite Welle sich bereits deutlich abzeichnete, könnte man als überheblich bezeichnen, zumindest war es sehr leichtsinnig.

Mitte November begann dann die Abkehr vom "Laissez-faire". Zunächst senkte die Regierung die Höchstzahl für öffentliche Veranstaltungen jeder Art - auch Demonstrationen - auf acht Personen herunter und verhängte ein Alkoholverbot ab 22 Uhr. Gestern waren dann die Schulen an der Reihe: Ab Montag bis vorerst 8. Januar müssen Oberstufen-Schüler ins Homeschooling.

"Ziel ist es, das Gedränge, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln, zu verringern", sagte laut "The Local" Gesundheitsbehörden-Chef Johan Carlson, auf dessen Empfehlung hin die Maßnahme beschlossen wurde. "Aber auch in dieser Altersgruppe beobachten wir eine starke Ausbreitung der Infektion." Geplant sind außerdem Regeln, die erneute Besuchsverbote für Pflegeheimen in Hotspots vorsehen.

Das wird kaum reichen

Ob die neuen Maßnahmen reichen werden, um die Neuinfektionen deutlich zu senken, wird in Schweden heftig diskutiert. Denn bis auf die beschlossenen Einschränkungen bleibt es bei Empfehlungen der Regierung, an die sich die Bevölkerung offenbar immer weniger hält. Eine Maskenpflicht wird noch nicht mal ernsthaft diskutiert und Restaurants bleiben wie alle Geschäfte weiter offen, es sind lediglich nicht mehr als acht Personen an einem Tisch gestattet. Und privat dürfen sich auch mehr Schweden treffen, hier gibt es ebenfalls weiter nur Empfehlungen.

Die wenigen Verbote sind nicht alleine auf Tegnells Widerwillen gegen Shutdowns zurückzuführen, die für ihn keine langfristige Lösung sein können. Schweden hat, beziehungsweise hatte, auch keine Gesetze, die erhebliche Eingriffe in Grundrechte gestatteten. Mitte April wurde zwar ein Notfall-Pandemie-Gesetz verabschiedet, dass der Regierung das Recht einräumte Schulen, Häfen, Geschäfte et cetera ohne Rücksprache mit dem Parlament zu schließen. Es lief allerdings am 30. Juni aus, ohne jemals genutzt worden zu sein.

Schwierige Rechtslage

Das Gesetz zeigt aber, dass es die schwedische Verfassung der Regierung grundsätzlich gestattet, Freiheitsrechte einzuschränken. Voraussetzung sind, dass entweder ein Gesetz verabschiedet wird, die Maßnahmen legitimen Interessen oder Zielen - beispielsweise der Gesundheit - dienen oder die Einschränkungen aus anderen Gründen als notwendig und verhältnismäßig erachtet werden.

Das ist sehr schwammig formuliert und entsprechend sind sich "The Local" zufolge auch die Experten uneins darüber, was in der aktuellen Situation möglich ist und was nicht. Eine Auffassung ist, die Regierung könnte das April-Gesetz neu auflegen, was der gebotenen Eile entsprechen würde. Allerdings verlangt die Opposition, dass in diesem Fall das Parlament jede Maßnahme diskutieren und absegnen müsste. Damit sei dieser Weg sinnlos geworden, so Gesundheitsministerin Lena Hallengren. Stattdessen arbeitet die Regierung jetzt an einem neuen Gesetz, das kaum rechtzeitig verabschiedet werden kann, um die zweite Welle noch aufzuhalten.

Nicht alles schlecht, aber kein gutes Vorbild

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Schweden ist also in einer ähnlich schwierigeren Lage wie Deutschland, wo Regierungsform und Verfassung ebenfalls die Möglichkeiten der Regierungen, in Grundrechte einzugreifen, stark beschränken. So sind trotz des neuen Infektionsschutzgesetzes langfristige Lockdowns in der Bundesrepublik kaum möglich. Aber die schwedische Regierung muss sich wie die deutsche den Vorwurf machen lassen, sich nicht bereits im Sommer auf eine zweite Welle vorbereitet zu haben - unter anderem mit einem neuen Gesetz.

Freiheitsrechte sind hohe Güter, und es ist gut, dass sie weder in dem einem noch dem anderen Land einfach eingeschränkt werden können. Europäische Zentralregierungen mit viel weitergehenden Befugnissen können zwar leichter wirksame Lockdowns durchsetzen, wie man beispielsweise an Frankreich sieht. Aber über die gesamte Dauer der Pandemie haben sie bisher wesentlich schlechter abgeschnitten. Schweden hat in der Corona-Krise vieles falsch gemacht, aber auch einiges richtig. Ein gutes Vorbild für Deutschland im Umgang mit der zweiten Welle ist es aber ganz sicher nicht.

Quelle: ntv.de

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