Panorama

"Hüter der Erinnerung" Szymon Kluger - der letzte Jude in Auschwitz

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Deportation von Juden aus Oswiecim (Auschwitz) im März/April 1941.

Deportation von Juden aus Oswiecim (Auschwitz) im März/April 1941.

(Foto: Auschwitz Jewish Center/Sammlung von Mirosław Ganobis)

Bevor die Deutschen in Auschwitz ein Vernichtungslager errichten, leben in der polnischen Kleinstadt mehrere Tausend Juden. Wenige von ihnen überleben den Holocaust. Nur einer kommt nach 1945 zurück in seine von den Deutschen gebrandmarkte Heimatstadt.

Auschwitz steht wie kein anderer Ort in der Geschichte als Synonym für den Massenmord an den europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten. Doch bevor die Nationalsozialisten Polen besetzten und Auschwitz zum Ort des Todes machten, lebte eine große jüdische Gemeinde in der polnischen Kleinstadt Oswiecim an der Sola.

Am 19. Januar 1925 wurde Szymon Kluger in eine ultraorthodoxe, jüdische Familie aus Oswiecim geboren. Gemeinsam mit seinen acht Geschwistern, den Eltern und Großeltern lebte Kluger in einem kleinen dreistöckigen Gebäude neben der Chewra-Lomdei-Mishnayot-Synagoge, eines von Dutzenden jüdischen Gebetshäusern in Oswiecim. In der Stadt, rund 50 Kilometer westlich von der polnischen Großstadt Krakau entfernt, gab es damals eine florierende jüdische Gemeinde.

Foto der Familie Kluger (1931-1933): Szymon sitzt mit Mütze auf dem höheren Stuhl in der Mitte.

Foto der Familie Kluger (1931-1933): Szymon sitzt mit Mütze auf dem höheren Stuhl in der Mitte.

(Foto: Auschwitz Jewish Center/Wirtualne Muzea Malopolski)

Schon seit dem 16. Jahrhundert lebten Juden in Oswiecim. Über die Jahrhunderte gab es immer wieder Perioden der Verfolgung und Diskriminierung. Trotzdem wurde die jüdische Gemeinde in Oswiecim stetig größer. Im 19. Jahrhundert wurde die Stadt unter europäischen Juden auch das "polnische Jerusalem" genannt. Kluger wuchs in der Zwischenkriegszeit auf, einer Periode, in der das jüdische Leben in Oswiecim erblühte: Ende der 1930er-Jahre waren mehr als die Hälfte der insgesamt 13.000 Einwohner der polnischen Kleinstadt jüdisch. Juden konnten damals aktiv am öffentlichen Leben in Oswiecim teilnehmen und waren sogar im Stadtrat vertreten. Doch dann kam der 1. September 1939.

Als die Nationalsozialisten nach Polen kamen

Oswiecim war eine der ersten Städte in Polen, die nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Armee eingenommen wurde. Im Oktober 1939 wurde die Stadt dem Deutschen Reich eingegliedert - damit änderte sich auch ihr Name, aus dem polnischen Oswiecim wurde Auschwitz. Kluger war 14 Jahre alt, er hatte gerade die Volksschule beendet.

Mit der Besatzung durch die deutschen Nationalsozialisten begann für die Juden in Oswiecim die Verfolgung: In der Nacht vom 29. auf den 30. November 1939 brannten die Deutschen das größte jüdische Gotteshaus in Oswiecim, die Große Synagoge, nieder, der jüdische Friedhof wurde zerstört, die Deutschen erschossen Jüdinnen und Juden auf offener Straße und zwangen jüdische Männer und Jungen zur Zwangsarbeit.

Weiterleben nach 1945 in Auschwitz?

Am südwestlichen Stadtrand, keine drei Kilometer vom Kluger-Haus entfernt, errichteten die Deutschen im Frühjahr 1940 das Stammlager des Konzentrationslagers Auschwitz, dessen Kommandantur Rudolf Höß übernehmen sollte. Im März 1941 begannen die Deportationen der jüdischen Bewohner aus Oswiecim. Auch Kluger, seine Brüder und Schwestern, seine Eltern und Großeltern wurden 1941 verschleppt, Kluger zunächst in das Ghetto in Bedzin. Als die Deutschen es 1943 auflösten, wurde Kluger in seine Heimatstadt gebracht - in das Lager Auschwitz, wo ihm die Nummer 179539 auf den Arm tätowiert wurde. In einem Außenlager musste er Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie verrichten. Später wurde er in das Lager Groß Rosen und schließlich nach Buchenwald deportiert.

Szymon Kluger in den 1950er-Jahren in Schweden.

Szymon Kluger in den 1950er-Jahren in Schweden.

(Foto: Auschwitz Jewish Center/Wirtualne Muzea Malopolski)

1945 lebten nur noch sein älterer Bruder Moses, seine ältere Schwester Bronia und der damals 20-jährige Szymon. Alle anderen Mitglieder seiner Familie waren ermordet worden. Die Geschwister wanderten später in die USA aus, Kluger zog nach Schweden. In Uppsala machte er eine Ausbildung zum Mechaniker.

Nur wenige Juden aus Oswiecim hatten die Jahre der NS-Verfolgung überlebt. Vereinzelt kehrten sie in ihre Heimatstadt zurück, verließen Oswiecim aber bald darauf wieder. Doch Kluger kehrte nach einigen Jahren zurück und blieb. "Er kam zurück, weil er sich in gewisser Weise dem Ort verbunden fühlte", sagt Artur Szyndler, Historiker des Auschwitz Jewish Centers. Er zog wieder in sein Elternhaus neben der Chewra-Lomdei-Mishnayot-Synagoge, dem einzigen jüdischen Gebetshaus, das von dem jüdischen Leben in Oswiecim vor 1945 erhalten geblieben war.

"Hüter der Erinnerung"

Szymon Kluger 1993 in der Küche des Elternhauses in Oswiecim.

Szymon Kluger 1993 in der Küche des Elternhauses in Oswiecim.

(Foto: Auschwitz Jewish Center/Wirtualne Muzea Malopolski)

In den 1960er-Jahren lebte nur noch Kluger als letzter Jude in der polnischen Kleinstadt. "Wir wissen nicht viel über sein Leben in dieser Zeit", sagt Szyndler. "Kluger lebte allein und hatte nur wenige Vertraute in Oswiecim. Sein Bruder Moses und seine Schwester Bronia lebten in New York und besuchten ihn von Zeit zu Zeit." Doch mit den Jahren hatte Kluger wohl immer weniger Kontakt zu seiner Außenwelt. Wie viele Überlebende litt er am Post-Holocaust-Trauma. "Seine persönliche und gesundheitliche Situation war kompliziert. Seine Zeit in den Lagern hat sicherlich Spuren in seiner Psyche hinterlassen", meint Szyndler. Das Elternhaus verließ er immer seltener. Jeden Freitag soll Kluger Schabbat-Kerzen vor der Synagoge angezündet haben. "Er war anscheinend der Hüter der Erinnerung."

Da das Gebetshaus neben seinem Elternhaus leer stand, wurde es ab den 1970er-Jahren von der polnischen Regierung zum Teppichlager umfunktioniert. 1998 wurde die Synagoge an die Auschwitz Jewish Center Foundation gespendet. Daraufhin wurde das Gebethaus restauriert und darin das Oshpitzin Museum errichtet.

Doch die Wiederöffnung der Synagoge erlebte Kluger nicht mehr. Am 26. Mai 2000 starb Szymon Kluger, drei Monate vor Abschluss der Renovierung. Er wurde in seiner Heimatstadt auf dem Auschwitz-Friedhof beigesetzt. Nach Klugers Tod spendeten seine Geschwister das Kluger-Haus an die Auschwitz Jewish Center Foundation. In den folgenden Jahren wurde es restauriert und in das Museum integriert. Szymon Klugers Tod bedeutete das Ende der jüdischen Gemeinde von Oswiecim.

Quelle: ntv.de

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