Panorama

Fake News oder Info-Quelle? Tiktok erlebt seinen ersten Krieg

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Die Videos von Valeria Shashenok werden millionenfach aufgerufen.

(Foto: valerisssh/Tiktok)

Tiktok ist längst nicht mehr nur Ort für lustige Tanzvideos. Inzwischen ist die Plattform überschwemmt mit Inhalten zum Krieg in der Ukraine. Das öffnet Raum für Falschmeldungen und gezielte Propaganda - bietet aber auch Chancen.

Wie Millionen andere dokumentiert Valeria Shashenok ihren Alltag auf der Videoplattform Tiktok. Es gibt allerdings einen Unterschied: Die 20-Jährige lebt im nordukrainischen Chernihiv, einer Stadt, die seit Beginn des russischen Angriffs immer wieder unter Beschuss steht. Ihr populärster Beitrag mit mehr als 35 Millionen Aufrufen stellt einen "typischen Tag im Luftschutzbunker" dar. Sie filmt, unter welchen Verhältnisse ihre Familie im Keller ausharrt, wie ihre Mutter auf einer provisorischen Herdplatte Essen zubereitet und gibt Einblicke in die von Zerstörung heimgesuchte Stadt. Die fröhliche Hintergrundmusik bricht mit dem Gesehenen, in der Beschreibung des Videos steht ironisch: "Lebe mein bestes Leben. Danke Russland."

Ihre Videos sind sinnbildlich für Tiktok: Schnelle Schnitte, musikalisch untermalt und das, trotz der Situation, mit Humor. Inzwischen folgen ihr rund 600.000 Menschen. Das Prinzip der chinesischen App beruht darauf, dass Nutzer - alleine in Deutschland sind es laut Konzernangaben mehr als 10 Millionen - ihre Videos schnell und unkompliziert aufnehmen und hochladen können.

Die bis zu drei Minuten langen Inhalte werden direkt auf der sogenannten "For-you-Page" angezeigt, nach bestimmten Videos zu suchen, ist eher unüblich. Was letztlich serviert wird, hängt vom persönlichen Nutzungsverhalten ab: Wer Videos zum Ukraine-Krieg konsumiert, bekommt noch mehr davon. Auf diesem Weg gehen die Videos von Valeria derzeit um die Welt. Auf ihre Motivation angesprochen, sagte sie in einem kürzlich ausgestrahltem Interview mit dem US-Sender CNN, es sei ihre Mission, den Menschen zu zeigen, was in der Ukraine passiert. "Ihr könnt den Krieg auf Tiktok sehen."

Krieg in Echtzeit

Tatsächlich ist der Konflikt in der Ukraine auf Tiktok omnipräsent, das amerikanische Magazin "New Yorker" spricht gar vom "ersten Tiktok-Krieg". Allein der Hashtag "Ukraine" zählt aktuell mehr als 27 Milliarden Interaktionen. Darunter lassen sich mitnichten nur Videos wie die von Valeria finden. Vielmehr verzeichnet die Plattform ein kaum durchschaubares Sammelsurium. Sachliche Berichterstattung reiht sich ein neben humoristischen oder satirischen Beiträgen, genannt Memes. Der Krieg scheint sich dort problemlos in die Netzkultur einzufügen: So wird der ukrainische Präsident Selenskyj in unzähligen Videos glorifiziert, etwa als postapokalyptischer Held dargestellt. Dazwischen kursieren massenhaft Bilder aus dem vermeintlichen Kriegsgebiet, etwa flüchtende Zivilisten, explodierende Raketen oder Aufnahmen von Soldaten. Verifizieren lassen sich diese Beiträge auf den ersten Blick oft nur schwer.

Das macht die App, die von rund einer Milliarde Menschen weltweit genutzt wird, anfällig für Falschmeldungen. "Es gibt Nutzer, die vermeintliche Kriegstöne unter Videos legen und so vorgaukeln, dass sie selber im Kriegsgebiet wären", sagt Marcus Bösch im Gespräch mit ntv.de. Er forscht zum Thema Desinformation an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und veröffentlicht einen wöchentlichen Tiktok-Newsletter. Daneben gebe es auch Unmengen an gezielter Desinformation. "Staatliche Akteure versuchen, Meinungen in bestimmte Richtung zu lenken. Das gibt es ganz klar von russischer Seite, inzwischen aber auch aus der Ukraine", so Bösch.

Einer Studie des Institute for Strategic Dialogue (ISD) zufolge nutzen russische Staatsmedien wie "Russia Today" oder "Sputnik" die Plattform, um gezielt Einfluss zu nehmen und die Ukraine zu diffamieren. Als Beispiel nennen die Studienautoren ein inzwischen gelöschtes Video eines "Sputnik"-Accounts vom 27. Februar, indem behauptet wurde, der ukrainische Präsident Selenksyj sei aus der Hauptstadt Kiew geflüchtet - eine Falschinformation. Experte Bösch berichtet zudem von unzähligen Accounts, die alle im nahezu gleichen Wortlaut russische Propaganda verbreiten, wie sie auch aus dem Kreml zu hören ist.

Auf Tiktok erreichen solche Botschaften ein riesiges Publikum, darunter viele junge Nutzer. Die Wissenschaftlerin Abbie Richards sagt der "New York Times": "Es gibt Menschen, die sehen ihren ersten Krieg auf Tiktok." Viele Nutzer würden der Plattform vertrauen: "Sie sehen falsche Informationen über die Ukraine und glauben diese." Wird Tiktok also zum Propagandainstrument?

In Russland nur noch eingeschränkt

Zumindest bei Videos aus Russland soll einer solchen Entwicklung Einhalt geboten werden. Der chinesische Mutterkonzern Bytedance reagierte auf das von Präsident Putin erlassene Mediengesetz und schränkte den Dienst im Land vergangene Woche weitgehend ein. "Wir haben keine andere Wahl", teilte das Unternehmen mit. So können aus Russland keine neuen Inhalte mehr hochgeladen werden. Beiträge einiger großer Staatsmedien sind in der EU blockiert. Dennoch seien viele Kreml-nahe Accounts laut ISD weiterhin verfügbar.

Auf der anderen Seite gehe durch die Sperre für die Öffentlichkeit eine wichtige Informationsquelle verloren, erläutert Bösch. So seien die russischen Truppenbewegungen vor Kriegsbeginn an der Grenze zur Ukraine auch durch Tiktok-Videos dokumentiert worden. In genau solchen Augenzeugenberichten liegt laut Bösch die große Stärke von Tiktok. "Nutzer bekommen einen Einblick in den Kriegsalltag, und das nicht durch abstrakte Bilder, sondern auf Augenhöhe. Das hat eine ganz andere Qualität." Von dieser Unmittelbarkeit würden mittlerweile auch vermehrt Journalisten profitieren, die über Tiktok Zugang zu neuen, direkten Informationen hätten.

Die Videos von Valeria sind eine Art, wie ein solcher Augenzeugenbericht aussehen kann. Indem sie die kurzen Filme in ihrer unmittelbaren Umgebung selbst produziert, gibt sie einem Millionenpublikum zumindest einen Eindruck, wie es sich anfühlt, in einem Kriegsgebiet zu leben. Dabei sensibilisiert sie ihre Zuschauer offenbar auch für die Geschehnisse: In den Kommentaren unter ihren Videos sammeln sich unzählige Solidaritätsbekundungen.

Ein weiterer Vorteil von Tiktok: Das auf Algorithmen basierende Prinzip macht es für Nutzer einfacher, ein erfolgreiches Video in Umlauf zu bringen. Anders als bei sozialen Medien wie Instagram hängt die Reichweite weniger von der Followerzahl ab. Das werde auch im aktuellen Konflikt zu vielen weiteren Berichten aus erster Hand führen, ist sich Bösch sicher. "Jeder mit einem Smartphone kann ein Video hochladen. Und jedes Video kann viral gehen."

Fake News erkennen

Doch wie lassen sich im Ukraine-Krieg Fakes von authentischen Inhalten unterscheiden? Dafür lohnt sich häufig schon ein zweiter Blick auf das Video, so Bösch. Ein wichtiges Indiz gebe der Account selber. Ist der Nutzer schon länger aktiv oder erst seit Kriegsbeginn? Mit welcher Intention wird hier möglicherweise gepostet?

Mit einer Überprüfung des Profils lasse sich auch der Veröffentlichungszeitpunkt von Videos festmachen. Kann das Gesehene damit übereinstimmen? Zudem verrät ein Klick auf den Musik-Button, ob eine Originaltonspur verwendet wurde - oder der Ton auch auf anderen Videos liegt. Häufig gebe es in den Kommentarspalten Hinweise von anderen Nutzern, etwa wenn altes Material benutzt wurde, erklärt der Experte. "Das ist bereits eine erste Absicherung."

"Letztlich ist Tiktok ein zweischneidiges Schwert", resümiert Bösch. "Einerseits findet sich dort ein Meer aus Propaganda, andererseits eröffnet Tiktok einen neuen Zugang zu Informationen." Der Experte nimmt auch die Plattform selbst in die Pflicht: "Tiktok muss die eigenen Community Guidelines konsequenter Durchsetzen, zum Beispiel durch das Löschen gewaltvoller Videos sowie mehr Transparenz und bessere Möglichkeiten für unabhängige Wissenschaftler schaffen." Die Betreiber einer Plattform mit mehr als einer Milliarde Nutzern seien hier in der Verantwortung. Zurzeit liegt es jedoch insbesondere am Nutzer selbst, den unbändigen Informationsfluss der App zu durchdringen.

Quelle: ntv.de

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